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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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mitangesehen hatte, blickte der Junge das Tier unverwandt an, als wollte ereinen Stier allein mit dem Willen bezwingen. Dann streckte er dem Esel die Hand hin, der brav herbeikam und sie beschnupperte. Die Ränder des über den festgetretenen Boden geschrammten Bretts hatten tiefe Furchen gezogen, streckenweise vom leblos hinterherschleifenden Körper des Krüppels wieder verwischt. Die Hände des Jungen tasteten sich unter dem Maul des Tiers vor und kraulten das schlaff über den Kinnbacken hängende Fell. Der Esel schnaubte durch die Nüstern wie ein trotziges Kind, bis er schließlich den ganzen Schmerz abschüttelte, den ihm das Steingeschoss bereitet hatte.
    Eine Zeit lang hielt der Junge den Kopf des Tieres umschlungen, während sich um sie herum die Nacht herabsenkte. Er erholte sich in der absoluten Stille, nur unterbrochen vom Schwanz des Esels, der die Bremsen verscheuchte. Ließ sich treiben oder hoffte auf das Quentchen Mut, das er brauchte, um nachzuschauen, ob der Mann noch am Leben war. Der Esel schwenkte den Kopf, und der drahtige Schopf zwischen seinen Ohren kratzte den Jungen an der Stirn. Irgendwann ließ er das Tier los und ging entschlossen um es herum, bis er vor dem leblosen Körper seines Verräters stand. Das Ohr über seinen Mund gebeugt, stellte er fest, dass der Mann noch atmete. Er tastete sein Jackett ab, fand in der Innentasche ein Päckchen Tabak, ein Feuerzeug und einen zusammengefalteten Zettel. Er faltete ihn auf und hielt ihn in das schwache Dämmerlicht. Den Text konnte er nicht entziffern, wohl aber die große Schlagzeile, die ihn als vermisst meldete. Fünfundzwanzig Taler wurden für glaubhafte Informationen hinsichtlich seines Verbleibs geboten. Er faltete dasBlatt wieder zusammen und steckte es in die Tasche zurück. Dann kappte er die Seile, die das Brett mit der Zäumung verbanden, und gab dem Esel einen Klaps auf die Kruppe, um ihn zu befreien. Das Tier verschwand seitlich des Weges und ließ den Mann mit dem Brett am Boden zurück. Die vier verdreckten Kugellager ragten still in die Luft, und mitten auf der Stirn des Krüppels prangte der Hufabdruck wie ein rotes U. Ein Blutrinnsal sickerte aus der Wunde. Die grausame Szene und der Gedanke, dass der Mann ihn seinem Henker hatte ausliefern wollen, wühlten den Jungen auf. Er versetzte dem Krüppel einen Tritt in die Nieren. Mit halb offenem Mund, die Lippen voller Sand, blieb der Mann bäuchlings auf dem steinigen Weg liegen, während sich unter ihm ein roter, blutiger Fleck im Staub bildete.
    Der Junge sah sich in der Gegend um, und als er ein paar Unebenheiten des Geländes wiedererkannte, schätzte er, dass sie sich ganz in der Nähe der Schleuse befinden mussten. Während der Verfolgung des Krüppels hatte er nur eines im Sinn gehabt: ihn zu überwältigen und sich mitsamt Esel und Wasserflaschen so rasch wie möglich davonzumachen, um zu dem Hirten zurückzukehren. Jetzt aber, mit dem schwerfälligen Körper zu seinen Füßen, musste er seine Optionen neu überdenken. Er wusste, dass es für den Krüppel den sicheren Tod bedeutete, wenn er ihn der sengenden Sonne aussetzte. Ihn mitzuschleppen würde ihn auf dem Marsch zu sehr behindern, und selbst wenn der Krüppel schwören würde, den versuchten Verrat zu bereuen, gäbe es spätestens beim Zusammentreffen mit dem Hirten Probleme. Er erwogauch, den Mann ins Dorf zurückzubringen. Immerhin wäre er dort, umgeben von seinen Lebensmittelvorräten, in Sicherheit. Doch dann käme für den Hirten jede Hilfe zu spät.
    Mit heftig unter der Serviette pochendem Daumen und wundgescheuerten Füßen wog der Junge noch einmal alle Alternativen gegeneinander ab, um eine vernünftige Lösung zu finden. Ihm blieb nur zu entscheiden, wen er rettete und wen er in den sicheren Tod schickte. Sein Herz sprach für den Hirten, doch zu seinen Füßen verblutete der Krüppel, und der Anblick seines verrenkten Körpers würde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen. Er wusste, egal, was er tat, er würde eine Todsünde auf sich laden. Ihm stand das Bild des Priesters auf der Kanzel vor Augen: das vergilbte Messgewand, der erhobene Zeigefinger, die Wölbung seines Bauches und der Geifer, der auf die Gläubigen herabregnete. Der Gerechte und der Pharisäer, der Weise und der Narr, der Sanftmütige und der Tyrann, die Mutter und die Hure. Die Kategorien, die zu umreißen schienen, was dem Herrn wohlgefällig war und was nicht. Predigten, die ihn nicht zu überzeugen vermochten. Er dachte, die

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