Die Flucht: Roman (German Edition)
geflohen und hatte ihn eingesperrt. Im Geiste sah er das von dem Schwein gezogene Brett mit den Kugellagern vor sich, wie der Krüppel es ihm beschrieben hatte, bevor er ihm in die Herberge gefolgt war. Er fragte sich, ob seine Sehnsucht nach Freiheit so groß war, dass er all das aufgegeben hatte, nur um in den Besitz eines alten Esels zu gelangen. Wenigstens hatte er ihn nicht getötet, um den Esel zu bekommen. Der Junge dachte an den Ziegenhirten. Stellte sich vor, wie er zu Füßen der Mauer allmählich sein Leben aushauchte. Die Raben still auf dem Christuskopf oder lauernd auf der Brustwehr in Erwartung seines nahen Endes. Die Ziegen wahnsinnig vor Durst. Er wusste, dass ihm das gleiche Schicksal blühte, wenn ihm nicht die Flucht gelang. An die Säule gekettet würde er irgendwann verhungern und verdursten. Ihm kam seine Familie in den Sinn, doch der Gedanke an sie spendete keinen Trost. Sie hatten ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht.
Auf dem Tisch stand noch der Teller, von dem er gegessen hatte, umgeben von Holzsplittern und Bruchstücken des zertrümmerten Stuhls. Mit der freien Hand wischte er einen kleinen Bereich auf dem Tisch sauber, um sich zu setzen, und erst da fiel ihm etwas ins Auge, was ihm beim Essen vor lauter Gier entgangen war. Auf einer Ecke des Tischs stand neben einer lasierten Tonschüssel ein Metallaschenbecher. Darin eine braune Kippe, bei deren Anblick er erbleichte und sein Magen erneut in Aufruhr geriet. Jetzt, da sich sein Verdacht bestätigte, wünschte er sich nur noch freizukommen und den Mann einzuholen, der ihn verraten wollte.
Er bemühte sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Weder wusste er, wie viele Stunden er geschlafen hatte, noch wann der Krüppel aufgebrochen war. Er wusste nur, dass er ihn einholen musste, bevor dieser mit dem Polizeiwachtmeister zusammentraf. Gewaltsam versuchte er, seine Fessel mit allen möglichen Handverrenkungen abzustreifen, bis er sich an dem Eisen wundgescheuert hatte. Wieder schaute er sich nach etwas um, das ihm helfen könnte, doch der Krüppel hatte dafür gesorgt, dass sich nichts, was ihm als Werkzeug hätte dienen können, in seiner Reichweite befand. Das Einzige, worauf er Zugriff hatte, waren die an der Wand hängenden Wurstwaren, die, so dachte er, sein Kerkermeister sicher absichtlich dort gelassen hatte, damit er am Leben blieb, bis dieser mit dem Polizeiwachtmeister zurückkehrte. Er fragte sich, welche Belohnung man wohl auf ihn ausgesetzt haben mochte.
So gut er konnte, streckte er sich zur Wand hin, umeine der Würste zu ergattern. Mit ganzer Kraft zerrte er an einem Stück Schweinespeck, bis es vom Haken riss. Er betastete es gründlich und rieb sich anschließend mit dem Fett das Handgelenk ein. Doch trotz heftigen Ziehens bekam er die Hand nicht frei. Dann machte er sich daran, den Metallring selbst kräftig mit dem Speck zu bearbeiten, als würde das Eisen so nachgeben. Der Geruch nach ranzigem Fett vermengte sich mit seinen Körperausdünstungen. Mit der freien Hand packte er den Eisenring und bemühte sich vergeblich, die andere durch heftiges Zerren und Drehen herauszuwinden. Zu guter Letzt klemmte er die Handschelle zwischen die Knie und zog kräftig mit beiden Händen. Als er sich dabei das Handgelenk verletzte, kapitulierte er.
Die Ellenbogen auf den Holztisch gestützt, die Handschelle etwas unterhalb des Handgelenks baumelnd, setzte er nun alles daran, den Daumen von der Wurzel her zu lockern. Er schmierte ihn noch einmal mit Fett ein und massierte ihn gründlich. Anschließend tastete er auf die gleiche Weise nach dem Gelenk, wie seine Mutter die Hühnerschenkel nach den Knöchelchen. Mit zwei Fingern schob er die Daumenglieder so gegeneinander, dass sie sich aneinanderrieben. Er rollte die Serviette vom Essen zusammen und packte sie sich zwischen die Zähne. Dann hakte er die Handschelle an einem Eisenbeschlag des Tischs ein und zog mit aller Macht daran. Er spürte, wie ihm die Handschelle die Daumenhaut abscheuerte, die Knochen sich in den Gelenken zusammenpressten und schließlich aufgrund des Fetts dem Druck des Rings nachgaben. Doch irgendwann blieb die Hand stecken,und er bekam sie nicht mehr los. Die Haut brannte, und der Druck bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Unter Tränen stemmte er sich mit der Stiefelsohle am breiten Tischbein ab, umfasste mit der freien Hand das gefesselte Handgelenk und zog mit einem letzten Ruck so heftig, dass er das Gleichgewicht verlor und rückwärts auf die
Weitere Kostenlose Bücher