Die Flucht: Roman (German Edition)
Hölle, die ihn am Ende seiner Tage erwartete, könne kaum schlimmer sein als sein leidvolles Leben. Der Höllenschlund voller schwarzer Seelen könne genauso gut diese ausgebrannte Ebene mit ihrer Horde elender Sünder sein.
Der Verstümmelte zu seinen Füßen kam wieder zu sich, wand sich unbeholfen auf seinem Gestell. Stöhnend gab er Worte von sich, die keinen erkennbaren Sinn ergaben. Vielleicht der Dialekt des Zerberus, der ihn amTor der Unterwelt empfing. Der Junge stellte sich den Krüppel im Gestrüpp vor. Dann dachte er an den Hirten, seinen Vater und schließlich an den Polizeiwachtmeister. Das Bild brannte sich ihm in die Lider wie ein loderndes Herdfeuer. Als der Mann erneut stöhnte, verpasste ihm der Junge mit zusammengepressten Zähnen einen Tritt auf den Mund, der ihn in die Bewusstlosigkeit zurückversetzte und ihm eine Lücke in seine verfaulten Backenzähne schlug. Der Junge spürte das aufwallende Blut in seinem Körper, eine innere Glut. Sein Kopf juckte und sein Stiefel war voller Kieselsteine. Er blickte um sich, vielleicht auf der Suche nach Zeugen oder nach Beistand, aber da war niemand. Nur eine verfallene Zisterne wenige Meter seitlich des Wegs. Einen Moment lang erwog er, den Krüppel dorthin zu schaffen und hineinzuwerfen, damit ihn niemand fand oder damit er am nächsten Tag im kochenden Sud umkam. Oder ihn nackt über die Felsen zu schleifen, ihm die Hände an den bei der Zisterne aus der Erde emporragenden Eisenrohren festzubinden, um ihn mit der Kraft des Esels in Stücke zu reißen. Oder aber ihn mitzuschleppen, seine Wunden zu pflegen und ihn um Vergebung zu bitten. Als der Mann erneut ein leises Wimmern von sich gab, blickte der Junge ihn an. Schließlich wich er zwei Schritte zurück und verpasste ihm noch einen Tritt mitten ins Gesicht, der ihm die Nase brach. So groß war seine Verstörung.
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E r trieb den Esel an, wohl wissend, dass dieser keinen Schritt schneller werden würde. Aber er wollte dringend den Krüppel hinter sich lassen. Er vertröstete sich mit nutzlosen Ausreden. Murmelte etwas von Gerechten und Sündern oder Kamel und Nadelöhr und vom Reich Gottes. War nicht mal wirklich überzeugt, den Mann zum Tode verdammt zu haben. Immerhin hatte er vor seinem Aufbruch noch den gesamten Inhalt seines Proviantsacks neben ihm ausgekippt. Im Gegenzug hatte er den Esel, die zwei Wasserflaschen und die Wegzehrung mitgenommen, die der Krüppel für die Reise zum Polizeiwachtmeister eingepackt hatte. Vielleicht, dachte er, herrschte auf dem Weg ja mehr Betrieb als erwartet, und der Krüppel saß schon morgen früh sicher auf dem Karren irgendeines Reisenden zwischen Säcken mit Kastanien und Trockenfrüchten.
Es war noch Nacht, als er die Umrisse der verfallenen Burg gewahrte. Im fahlen Licht des Halbmonds lag die Ruine da wie ein in matten Blautönen gehaltenes Aquarell. Er erkannte seitlich den Haufen verendeter Tiereund hörte das Glöckchen irgendeiner schlaflosen Ziege bimmeln. Das Geräusch beruhigte ihn, denn seit er am Abend zuvor die Burg verlassen hatte, lag ihm ein Gedanke schwer auf dem Magen: Die Vorstellung, der Hirte könnte bei seiner Rückkehr nicht mehr da sein. Das Läuten verschaffte ihm zwar noch keine Gewissheit, doch zumindest empfing ihn keine Totenstille. Er gab dem Esel die Sporen und rutschte unruhig im Sattel auf und ab, um ihn zu noch mehr Eile anzutreiben. In der Nähe der verendeten Ziegen vernahm er das monotone Surren tausender unsichtbarer Fliegen, die er sich als schwarze Wolke auf dem Berg aus Kadavern vorstellte. Obwohl der Wind nicht in seine Richtung blies, bedeckte er den Mund, damit ihm von dem giftigen Pesthauch nicht schlecht würde. Wenige Meter vor der Mauer sprang er aus dem Sattel und rannte hastig zu der Stelle, an der er den Hirten umgeben von seinen Habseligkeiten zurückgelassen hatte. Ehe er nach dem Alten schaute, wollte er noch den Topf suchen, um Wasser für ihn abzukochen und ihm zu trinken zu geben. Das Gepäck des Hirten befand sich genau dort, wo er es hingestellt hatte, aber sein Liegeplatz war leer. Er ging in die Hocke und strich mit der Hand über die Satteldecke, als traute er seinen Augen nicht. Die Anspannung der letzten Tage fiel von ihm ab, er sank neben dem Lager des Alten nieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie und raufte sich weinend die Haare. Seine kindische Flucht, die sengende Sonne, die Ebene, die sich gegen ihn verschworen zu haben schien. Er fühlte die Unabänderlichkeit all dessen, was ihn
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