Die Flucht: Roman (German Edition)
umgab, die Vergänglichkeit in allem, was er berührte oder sah, und zumersten Mal seit seiner Flucht hatte er Angst zu sterben. Der Gedanke, vielleicht alleine weitergehen zu müssen, versetzte ihn in Panik. Ließ ihn erwägen aufzugeben. Vor dem verzweifelten Kampf gegen die Natur und die Menschen zu kapitulieren und umzudrehen. Keine Heimkehr, sondern einfach nur eine Rückkehr unter das schützende Dach des Elternhauses, unter schlechteren Bedingungen als vor seiner Flucht. Nicht als der verlorene Sohn. Stattdessen als einer, der seine Familie verschmäht hatte und sich nun ihrem Urteil stellen musste. Gedanken, die ihm jetzt kamen, weil die ausgebrannte Ebene ihn auf eine Weise zermürbt hatte, wie er es sich daheim nie hätte träumen lassen. Der Kampf ums Überleben hatte ihn restlos ausgelaugt, und nun hätte er das Kostbarste seiner selbst für ein wenig Ruhe gegeben, für die einfache Befriedigung seiner Grundbedürfnisse: Schutz vor der Sonne zu suchen, der Erde jeden Tropfen Wasser abzuringen, sich selbst zu verletzen, sein eigenes Gefängnis zu sprengen, über das Leben anderer zu entscheiden, das waren Dinge, die seine kindlichen Gedanken, seine im Wachstum begriffenen Knochen, seine weichen Muskeln, seinen schmächtigen Körper, der erst noch zu männlicher Kantigkeit heranreifen musste, überforderten. Er sah den leblosen Körper des Alten vor sich, mitgeschleift vom Motorrad des Polizeiwachtmeisters. Die Schergen lachend auf ihren Pferden.
Im Dunkeln schlug er die Hände vors Gesicht. Eine kleine, warme Zuflucht, um sich in den hohlen Handflächen zu verkriechen. Eine Nische, frei vom ewigen Anblick der kargen Ebene. Abgeschottet, nur konfrontiertmit seinen Händen, die eine schmutzig, die andere mit einer blutverkrusteten Serviette umwickelt. Darunter verborgen eine pochende Beule an seinem zerfetzten Daumen.
»Steh auf, Junge!«
Die Stimme des Hirten, dünn und kraftlos, die knochige Hand auf seiner Schulter. Ohne auch nur hochzusehen, sprang der Junge auf, schlang die Arme um den gebrechlichen Körper des Alten. Vergrub sich in seinen Lumpen, verschmolz mit ihm, auf der Suche nach der Geborgenheit, die seine Hände ihm nicht hatten bieten können. Zum ersten Mal körperliche Nähe, ohne sich aufzulehnen. Zum ersten Mal Haut an Haut. Wortkarg begrüßt von dem Alten, empfangen wie ein Heimkehrer aus der Fremde. Der Junge an seine Brust geschmiegt, bis der Hirte ungehalten keuchte: »Meine Rippen.« Wie von selbst löste sich der Knoten, und sie trennten sich. Was folgte, war nicht Scham. Eher Zurückhaltung, gemäß der geltenden Regeln ihrer Lebenswelt. Das Eis aber war gebrochen.
Nachdem das Wasser abgekocht war und der Hirte und die Ziegen getrunken hatten, verputzten sie die Räucherwürste bis auf die Kordeln und tranken den Wein. Der Hirte ausgiebig und der Junge eher zögerlich. Er tat es dem Hirten nach, auch weil er glaubte, nach seiner abenteuerlichen Reise ein anderer zu sein: einer, der sein Leben riskiert hatte, damit die Tiere Wasser bekamen, einer, der mit einem Stein nach einem wehrlosen Krüppel geworfen hatte. Als sie sich sattgegessen hatten, erzählte der Junge dem Hirten, was ihm zugestoßen war.
»Wir müssen diesen Mann finden, bevor ihn die Raben töten.«
Der Junge spürte, wie die Anspannung sich wieder auf ihn herabsenkte und sein Kiefer sich verkrampfte. Er wandte sich zu dem Alten um, unfähig zu begreifen, was er zu hören bekam, doch dieser erwiderte seinen Blick nicht. Der Junge wusste, dass er nicht recht gehandelt hatte, aber dass er den Mann, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte, nun retten sollte – das hatte er nicht erwartet. Eher noch, dass der Alte ihm anerkennend auf die Schulter klopfte oder ihm als Zeichen seiner Zustimmung die Hand schüttelte. Wenn der Hirte schon nicht bereit war zu sehen, welche Opfer er gebracht hatte, sollte er wenigstens nicht von ihm verlangen, sich erneut in die Höhle des Löwen zu begeben. Er betrachtete die Hände des Hirten, von den Prügeln geschwollen, und erinnerte sich an seine entzündeten Augen und die Striemen der Peitschenhiebe auf seinem Rücken. Er dachte, dass der Alte ihm die Welt der Erwachsenen nicht erschließen würde. Eine Welt voller Grausamkeiten, von Habsucht und Lüsternheit regiert. Der Junge hatte zur Gewalt gegriffen, weil er es von seinen Mitmenschen nicht anders kannte, und erwartete nun, davonzukommen wie sie. Die Härte der Ebene hatte weit mehr von ihm gefordert, als er vom Leben wusste.
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