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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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Ein Schauplatz des Schreckens, der ihn fast umgebracht hätte. Doch anstatt den Kopf zu senken, hatte er das Schwert erhoben. Er hatte von dem Blut gekostet, das aus Kindern Krieger und starke Männer verwundbar macht. Und er hatte sich eingebildet, der Alte würde ihn mit Lorbeer bekränzt durchs Siegestor geleiten.
    »Dieser missgestaltete Bastard hat mich gefesselt und sich aus dem Staub gemacht, um den Polizeiwachtmeister zu holen.«
    »Auch er ist ein Sohn Gottes.«
    »Dieser Sohn Gottes wünscht unseren Tod.«
    Noch vor dem Morgengrauen standen sie auf und schlugen den Treidelweg in Richtung Schleuse ein. Der Alte auf dem Esel, mit schlaff herabhängendem Kopf, der Junge vorneweg, in einer Hand den Stab, in der anderen den Halfterstrick. Da der Hund fehlte, musste er die Ziegen antreiben, wenn sie innehielten, um zu grasen.
    Unterwegs ging ihm der Krüppel, den er einfach im Staub zurückgelassen hatte, nicht aus dem Sinn. Lag er noch da? Hatte er sich umdrehen und auf die Räder stellen können? Wenn er sich recht erinnerte, waren die Radachsen sehr breit. Ein Vorteil zwar, um auf unebenem Gelände nicht umzukippen, doch erschwerend, wenn es nötig wurde, sich nach einem Unfall wieder aufzurappeln. Der Junge wusste nicht, wie er reagieren sollte, wenn er den Mann wiedersähe. Das letzte Mal hatten sie sich noch als Freunde in die Augen geschaut. Danach die Gefangennahme, die Flucht des Krüppels mit dem Esel, der von hinten auf ihn geschleuderte Stein, die Fußtritte, sein Verschwinden.
    Je heller es wurde, desto deutlicher zeichneten sich die Umrisse der Berge am Horizont ab. Die dunstverschleierte Ebene am Fuße der Anhöhen im Norden wie ein Ozean. Eine wässrige Sinnestäuschung. Die Berge eine Barriere, ein Grenzwall oder der Traum von einer Gegend,in der man freier atmet. Der Junge war fasziniert vom Anblick der nebligen Berge. Er stellte sich vor, er befände sich dort, am Rand der Ebene, unmittelbar vor den ersten Erhebungen. Bei ihm der Hirte und die Tiere. Wie er mit ihnen einen steilen, sich zwischen unbekannten Bäumen schlängelnden Pfad bis zu einer Hochebene erklomm. Bewaldete Berghänge hinauf, an schattigen, munter sprudelnden Bächen entlang. Zwischendurch immer wieder eine Verschnaufpause, in der er Schiffchen aus Kiefernrinde schwimmen ließ. Oben dann eine Wiese, ein Hirtenpferch aus Stein mit einem Dach aus getrocknetem Heidekraut als Unterschlupf. In seiner Vorstellung tummelte sich die Herde, auf wundersame Weise vermehrt, auf dem grünen, duftenden Hochland. Zum Norden hin stiegen die Berge an. Ragten weit über die bewaldeten Hänge hinaus, wie Spitzen aus poliertem Quarzstein. Dahinter weiße Gipfel. Gletscher, in Ritzen gerammt wie gigantische Schrammen. Auf der Südseite der Wiese ein gewaltiger Überhang, wie ein Balkon mit Ausblick auf die verbrannte Ebene. Abends, wenn die Ziegen versorgt wären und der Alte auf seinem Strohsack läge, würde er von seiner hohen Warte aus auf sie hinabblicken. Auf seinem Wachturm, umgeben von endloser Üppigkeit, würde er zu Engeln und Erzengeln beten, sie anflehen, seinem Dorf den nötigen Regen zu schicken, um die Äcker wieder fruchtbar zu machen. Die Familien würden in ihre alten Häuser zurückkehren und das Getreidesilo würde sich wieder füllen. Wenn dann alle im Überfluss lebten, würde der Polizeiwachtmeister seine Abgaben erhalten und keiner mehr an den vermissten Jungen denken.
    Die Schleuse erreichten sie erst, als die Sonne schon auf sie niederbrannte. Der Junge half dem Hirten vom Esel herab und wies ihm ein Plätzchen zu, an dem er sich an eine hohle Esche gelehnt ausruhen konnte. Sie tranken warmes Wasser, am Vorabend abgekocht. Der Junge wandte sich an den Alten.
    »Wir haben nichts zu essen.«
    »Du wirst dich hier in der Gegend nach etwas umschauen müssen.«
    »Warum haben wir das Dörrfleisch nicht mitgenommen?«
    »Weil es noch nicht trocken war.«
    »Vielleicht wäre es unterwegs getrocknet.«
    Der Hirte warf dem Jungen einen missmutigen Blick zu, nicht daran gewöhnt, die Dinge erklären zu müssen.
    »Ich konnte nicht ahnen, dass wir gleich aufbrechen würden.«
    »Wir hätten noch bleiben können.«
    Der Alte straffte den Nacken, und sein Kopf reckte sich wie eine Blume, die inmitten von Fäulnis sprießt. Sein Blick, hart wie Stein, fixierte den Jungen, bis dessen schmutziges Kinn sich zur Brust senkte.
    Der Hirte schickte ihn auf die Suche nach Süßholzwurzeln, mit erhobenem Zeigefinger umschreibend, wo sie am

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