Die Flucht: Roman (German Edition)
ehesten zu finden seien. Ohne aufzublicken, holte sich der Junge das Messer aus dem Ranzen des Alten und trottete auf eine kleine Böschung unterhalb des Kanals zu. Er glaubte nicht, um diese Jahreszeit viel graben zu müssen, um ein bisschen frisches Süßholz zum Kauen zu finden.
Mit dreckigen Hemdsärmeln und drei oder vier schrumpeligen Wurzeln kehrte er zurück. Er zerteilte sie in bleistiftgroße Hölzchen und schälte zwei davon. Der Alte begann auf seiner Wurzel zu kauen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
»Tut es sehr weh?«
»Ja.«
»Wie kann man die Schmerzen lindern?«
»Du müsstest mir die Wunden auswaschen.«
Der Junge half dem Alten, den an den Stamm zurückgelehnten Oberkörper aufzurichten. Zog ihm vorsichtig das Jackett aus und legte es beiseite. Knöpfte sein Hemd auf und entblößte die Brust. Obwohl er keine tiefen Wunden hatte, wirkte der Alte geschwächt. Der Junge tauchte einen Stofflappen ins Wasser und reinigte behutsam die blutigen Striemen. Klaglos biss der Hirte die Zähne zusammen und schloss nur die Augen, wenn der Junge zu heftig drückte. Der Junge dachte, er habe sich vielleicht irgendetwas gebrochen oder sei einfach zu alt, um derart brutale Schläge zu überstehen. Er erinnerte sich, wie der Alte schon in der ersten Nacht in seine Decke gewickelt dagelegen hatte und wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, sich auch nur am Boden aufzusetzen. Ihm wurde klar, dass der Hirte vor ihrer Begegnung wohl nichts weiter getan hatte, als die Ziegen von einer Brache zur nächsten zu treiben, nie über lange Strecken hinweg. Aber warum hatte er ihn nur so entschlossen verteidigt? Wozu die ganzen Strapazen, die seine Kräfte überstiegen? Wieso hatte er ihn in der Burgruine nicht an den Polizeiwachtmeister ausgeliefert? Immerhin hatte ihn sein Schweigenden Großteil seiner Tiere und beinahe auch sein Leben gekostet.
Im Schatten unter der Esche bat er den Alten, sich auf die Seite zu drehen. Fünf tiefe dunkle Furchen zogen sich quer über den Rücken. Der Stoff war mit getrocknetem Blut verklebt. Der Junge schilderte dem Hirten, was er sah, damit dieser ihm sagen konnte, was zu tun sei. Als Erstes goss er etwas Wasser über den Rücken, um die Kruste aufzuweichen, damit er den Stoff ablösen konnte, ohne dass die Wunden aufplatzten. Eine Prozedur, die er mehrmals wiederholte, bevor er sich daranmachte, behutsam den Stoff abzuziehen. Als er ihm das Hemd ausgezogen hatte, breitete er es auf dem Boden aus. Der Alte starrte eine Weile auf das Zeugnis seiner Qualen. Dann lehnte er sich vor, damit der Junge fortfahren konnte. Die Wundmale waren wulstig und voller weißlicher Pusteln. Zeichen einer Infektion. Gleich als der Junge ihm den Zustand seiner Wunden geschildert hatte, war dem Alten klar gewesen, dass sie ihn ohne Alkohol und ohne die Möglichkeit, sich zu schonen, das Leben kosten würden.
»Wenn ich sterbe, begrab mich so gut es geht, und setz ein Kreuz drauf, auch wenn es nur aus Steinchen ist.«
Der Junge unterbrach seine Waschung.
»Sie müssen nicht sterben.«
»Natürlich muss ich sterben. Sorgst du für ein Kreuz?«
Dem Jungen verwässerte sich die Sicht, die er von seinem jämmerlichen Schattenplatz aus auf die Ebene hatte. Die sanften Hügel, der ausgetrocknete Kanal und die Berge, auf die er zuführte, verschwammen vor seinen Augen.
»Sorgst du für ein Kreuz?«
»Ja.«
Halb dösend warteten sie ab, bis die Sonne an Kraft verlor, und machten sich dann wieder auf den Weg. Der Junge hatte dem Hirten das Jackett über die Schultern gehängt. Ein paar Stunden später kam die Zisterne in Sicht. Aus der Entfernung keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit des Krüppels. Der Junge dachte, er habe sich zum Schutz vor der Sonne vielleicht unter einen Kanalpfeiler geschleppt. Sie gingen weiter, bis sie die gesamte Gegend überblicken konnten, an der sie den Mann vermuteten. Doch von ihm keine Spur. Der Junge ließ den Halfterstrick los und rannte zur Zisterne vor. Weder dort fand er ihn noch an irgendeinem verfallenen Pfeiler beim Kanal. Er suchte am Wegesrand nach der Stelle, an der er den Krüppel eingeholt hatte, und entdeckte bald die Blutspuren auf den Kieseln und ein Stück weiter entfernt auch den klobigen Stein, mit dem er den Esel getroffen hatte. Obendrein stieß er auf Hufspuren von mindestens zwei Pferden und sah, dass die Erde an mehreren Stellen der Böschung seitlich des Weges aufgelockert war. Der Spur der Pferdehufe folgend, stellte er fest, dass sie sich
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