Die Flucht
den Jungen schiebt, der es benutzt.
Ich will es nicht anfassen. Um keinen Preis. Niemals wieder. Aber ich muss es nehmen und das Blut, so gut es geht, abwischen, mit ein paar nassen Blättern, und ich muss es in das Futteral stecken, das an meinem Gürtel hängt.
Ich muss es tun. Ich habe keine andere Wahl. Der Spackle drängt sich in mein Gesichtsfeld, aber ich schaue nicht hin, als ich das Messer nehme.
»Komm, Manchee.« Vorsichtig schultere ich Violas Tasche. Enttäusch mich nicht. Lass mich nicht allein.
Es ist an der Zeit aufzubrechen.
»Wir werden sie finden«, verspreche ich.
Ich mache mich auf in Richtung Straße. Am besten ist es, ihnen so schnell wie möglich entgegenzugehen. Ich werde sie kommen hören, kann ihnen also rechtzeitig ausweichen, und dann werde ich mir etwas einfallen lassen, um Viola zu retten. Irgendetwas.
Was auch heißen kann, dass ich mich ihnen entgegenstellen muss.
Ich bahne mir einen Weg durchs Gebüsch und höre, wie Manchee bellt: »Todd?«
Ich drehe den Kopf und vermeide es, zum Spackle-Lager zu sehen. »Komm schon, alter Junge.«
»Todd!«
»Ich habe gesagt: Komm! Und das meine ich auch so.« »Dahin, Todd«, bellt er und wedelt mit seinem halben Schwanz.
Ich drehe mich ganz um. »Was hast du gesagt?«
Er zeigt in eine völlig andere Richtung als die, die ich einschlagen wollte. »Dahin«, bellt er. Mit der Pfote reibt er sich über den Verband an seinem Auge, reißt ihn ab und blinzelt mich aus seinem verletzten Auge an.
»Was soll das heißen: dahin?«, frage ich und spüre Verunsicherung.
Er neigt den Kopf, trippelt mit den Vorderpfoten in eine Richtung, die nicht nur von der Straße wegführt, sondern auch von der Armee. »Viola«, bellt er, dreht sich einmal im Kreis, um dann wieder in diese Richtung zu schauen.
»Kannst du sie riechen?«, frage ich, und meine Stimmung hebt sich.
Er bellt, es hört sich wie ein Ja an.
»Du kannst sie riechen?«
»Dahin, Todd.«
»Nicht zur Straße zurück?«, frage ich. »Nicht zurück zur Armee?«
»Todd!« Er spürt, wie mein Lärm lauter wird, auch er wird immer aufgeregter.
»Bist du sicher?«, frage ich. »Du musst ganz sicher sein, Manchee. Ganz sicher.«
»Dahin!«
Und weg ist er.
Er rennt durchs Gebüsch, einen Flusspfad entlang, weg von der Armee.
Auf Haven zu.
Keine Ahnung, warum er das macht, aber in dem Augenblick, in dem ich loslaufe, so gut ich es mit meinen Verletzungen kann, in dem Augenblick, in dem ich ihn vorausrennen sehe, denke ich im Stillen: braver Hund, verdammt braver Hund.
27
Weiter geht’s
»Dahin, Todd«, bellt Manchee und führt mich um einen Felsvorsprung herum.
Seit wir den Lagerplatz des Spackle hinter uns gelassen haben, ist das Gelände immer zerklüfteter geworden. Schon seit ein, zwei Stunden ziehen sich die Wälder bis hoch in die Berge hinauf, und wir folgen ihnen nach oben und wieder nach unten. Manchmal klettern wir mehr, als dass wir laufen. Wir erreichen eine weitere Anhöhe und wieder fällt der Blick auf Hügelketten, die sich vor uns in sanften Wellen ausbreiten, von Wald bedeckt, einige von ihnen so steil, dass man sie nicht erklimmen kann, sondern mühsam umrunden muss. Dazwischen schlängeln sich die Straße und der Fluss auf so gewundenen Pfaden, dass ich sie manchmal sogar aus den Augen verliere.
Die Verbände tun sicher ihre Wirkung, trotzdem habe ich bei jedem Schritt Schmerzen in Kopf und Rücken, und hin und wieder muss ich stehen bleiben; manchmal kommt mir mein leerer Magen hoch.
Aber wir gehen weiter.
Schneller, denke ich, lauf schneller, Todd Hewitt!
Sie haben mindestens einen halben Tag Vorsprung, vielleicht sogar eineinhalb Tage, und ich weiß nicht, wohin siegehen, was Aaron vorhat und wann sie ihr Ziel erreicht haben, deshalb laufen wir immer weiter.
»Bist du sicher?«, frage ich Manchee immer wieder. »Dahin«, bellt er dann jedes Mal.
Ich bin vollkommen verwundert, dass wir fast denselben Weg gehen, den Viola und ich ohnehin genommen hätten, dem Fluss folgend, abseits der Straße, und immer nach Osten, Richtung Haven. Ich weiß nicht, warum Aaron da hinwill, ich weiß nicht, weshalb er sich von der Armee entfernt, aber Manchee wittert, dass die beiden diesen Weg genommen haben, und deshalb folgen wir dieser Richtung.
Mittag ist vorüber, und wir laufen immer noch, bergauf, bergab, immer weiter, durch Wälder, deren Baumblätter jetzt nicht mehr so breit sind wie in der Ebene, sondern größer, lang und spitz wie Pfeile. Hier riechen sogar
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