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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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ziehe ich es hoch, und schließlich habe ich es über meinen brennenden Rücken gestreift und dann auch über meinen brennenden Kopf, es ist überall mit Blut und Schlamm verschmiert.
    Ich nehme das kleine Skalpell aus dem Erste-Hilfe-Set und schneide den Verband in zwei Hälften. Die eine Hälfte lege ich auf meinen Kopf und halte sie fest, bis sie von alleine klebenbleibt, dann führe ich die Hand langsam nach hinten und lege mir die andere Hälfte auf den Rücken. Anfangs wird der Schmerz sogar noch heftiger, als das Zeug, die menschlichen Zellen, oder was zum Teufel auch immer das ist, in die Wunden dringt und sie verschließt. Ich beiße die Zähne zusammen, doch dann beginnt die Arznei zu wirken und eine kühle Welle schwappt durch meine Adern. Ich warte, bis die Wirkung so stark ist, dass ich aufstehen kann. Ich bin wackelig auf den Beinen, aber es gelingt mir immerhin, eine ganze Minute lang stehen zu bleiben.
    Noch eine weitere Minute, und ich mache schon einen ersten Schritt, dann einen zweiten.
    Aber wohin soll ich gehen?
    Ich habe keine Ahnung, wohin er sie gebracht hat. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seither vergangen ist. Er könnte inzwischen wieder bei der Armee sein.
    »Viola?«, winselt Manchee.
    »Ich weiß es nicht, Kumpel. Lass mich überlegen.«
    Sogar mit dem Verband kann ich nicht lange aufrecht stehen. Aus den Augenwinkeln sehe ich den toten Spackle. Ich drehe mich zur Seite, um ihn nicht anschauen zu müssen. Ach, betrüg mich nie, ach, verlass mich nie.
    Enttäusch mich nicht. Lass mich nicht allein.
    Ich seufze, denn ich weiß, was ich tun muss.
    »Es geht nicht anders«, sage ich zu Manchee. »Wir müssen zur Armee zurück.«
    »Todd?«, winselt er.
    »Es geht nicht anders«, wiederhole ich und schlage mir selbst alles andere aus dem Kopf, denke nur noch ans Marschieren.
    Aber zuallererst brauche ich ein neues Hemd.
    Mit dem Rücken zum Spackle mache ich mich an meinem Rucksack zu schaffen.
    Das Messer steckt noch in dem Rucksackstoff und im Buch. Ich möchte es eigentlich gar nicht anfassen, und nicht einmal in meiner Benommenheit möchte ich wissen, wie es jetzt aussieht, aber ich muss das Messer rausziehen, also halte ich den Rucksack mit den Füßen fest und ziehe. Es klappt nicht sofort, aber dann gleitet das Messer heraus und ich werfe es auf die Erde.
    Ich betrachte es, wie es auf dem nassen Moos liegt. Überall klebt noch Blut. Spackle-Blut. Aber das helle Blut an der Spitze stammt von mir. Ich überlege, ob das Blut des Spackle in mein Blut gelangt ist, als Aaron auf mich einstach. Ich frage mich, ob es besondere Viren gibt, mit denen man sich nur so anstecken kann.
    Aber ich habe keine Zeit für solche Fragen.
    Ich öffne den Rucksack und hole das Buch heraus.
    Mittendurch, auf der einen Seite hinein, auf der anderen Seite wieder hinaus, geht ein messergroßer Stich. Das Messer ist so scharf und Aaron muss so kräftig zugestochen haben, dass das Buch fast unbeschädigt geblieben ist. Durch alle Seiten, von der ersten bis zur letzten, geht ein Schlitz. An den Rändern sind kleine Flecken, mein Blut und Spackle-Blut, aber man kann es noch immer gut lesen.
    Ich könnte es immer noch lesen, könnte es mir immer noch vorlesen lassen.
    Falls ich das je verdiene.
    Ich wische diesen Gedanken beiseite und hole ein sauberes Hemd aus dem Rucksack. Dabei muss ich husten, und sogarmit Verband tut es so weh, dass ich eine Weile warte, bis der Schmerz nachlässt. Ich habe das Gefühl, dass meine Lunge voller Wasser ist und dass ich einen Berg aus Flusskieseln in der Brust habe, aber ich ziehe das Hemd an und nehme alle brauchbaren Sachen, die ich tragen kann, aus meinem Rucksack, ein paar Kleidungsstücke, mein eigenes Erste-Hilfe-Set, alles, was der Regen und Prentiss junior heil gelassen haben, und packe es mitsamt dem Buch in Violas Tasche, denn ich kann beim besten Willen keinen Rucksack mehr tragen.
    Trotzdem bleibt da die alles entscheidende Frage.
    Wohin soll ich gehen?
    Ich werde auf der Straße zurückgehen, zu der Armee, das ist es, was ich tun werde.
    Ich werde der Armee entgegenlaufen und Viola retten, selbst wenn ich mich im Austausch für sie gefangen nehmen lassen muss.
    Aber da kann ich nicht unbewaffnet gehen, oder?
    Nein, das kann ich nicht.
    Ich betrachte das Messer, es liegt auf dem Moos, ein Gegenstand ohne Eigenschaften, ein Ding aus Metall, so anders als der Körper eines Jungen, wie es anders gar nicht sein könnte, ein Ding, das alle Schuld von sich weist und auf

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