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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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unten, wo nur noch Schwärze ist, tief unten im Nichts, wo es keinen Todd mehr gibt, der an allem schuld ist, der alles falsch macht, der Ben enttäuscht hat und auch Viola. Dann könnte ich endlich im Nichts aufgehen und brauchte mich um nichts mehr zu kümmern.
    Aber da ist Manchee, der nicht aufhört, mich abzulecken. »Hau ab, lass mich in Ruhe!« Ich strecke den Arm aus, um ihn wegzuschubsen.
    Aaron hätte mich töten können, es wäre so einfach für ihn gewesen.
    Das Messer in meinen Nacken, das Messer durch mein Auge, das Messer, das mir die Kehle aufschlitzt. Ich war ihm ausgeliefert und er hat mich nicht getötet. Er hat genau gewusst, was er tat. Es war Absicht.
    Hat er mich hier liegen lassen, damit der Bürgermeister mich findet? Aber weshalb war er der Armee so weit voraus? Wie hat er es geschafft, den ganzen Weg, anders als Prentiss junior, ohne Pferd zurückzulegen? Wie lange war er uns schon auf den Fersen?
    Wie lange war er schon hinter uns her, als er aus dem Wald trat und Viola mitnahm?
    Ich stöhne leise auf.
    Deshalb also hat er mich am Leben gelassen. Damit ich weiterlebe in der Gewissheit, dass er Viola mitgenommen hat. So also will er mich besiegen. So will er mich leiden lassen. Ich soll weiterleben und das, was geschehen ist, immer in meinem Lärm herumtragen.
    Eine neue Kraft durchströmt mich, und ich setze mich auf, ich achte nicht auf den Schmerz und atme, bis ich versuchen kann aufzustehen. Das Rasseln in meiner Lunge und der Schmerz im Rücken zwingen mich stärker husten, aber ich beiße die Zähne zusammen und stehe es durch.
    Weil ich sie finden muss.
    »Viola«, bellt Manchee.
    »Viola«, sage ich und beiße die Zähne noch fester zusammen, denn ich muss aufstehen.
    Aber das ist zu viel Anstrengung, der Schmerz reißt mir die Beine weg, ich sacke zurück in den Schlamm und liege einfachnur da, alles drückt mich zu Boden. Ich ringe nach Luft, meine Gedanken wirbeln wirr durcheinander, und in meinem Lärm laufe und laufe und laufe ich ohne Ziel, mir ist heiß, ich schwitze am ganzen Körper, und hinter den Bäumen höre ich Ben. Ich laufe ihm entgegen, und er singt das Lied, er singt mein Schlaflied, das Lied, das nur für Jungen ist, nicht für Männer, aber als ich es höre, wird mein Herz ganz weit und es ist »Früh am Morgen, wenn die Sonn aufgeht« .
    Ich fasse mich und das Lied kommt zu mir zurück.
    Es geht so:
     
    Früh am Morgen, wenn die Sonn aufgeht,
    Eine Maid vom Tal zu mir fleht,
    Ach, betrüg mich nie, ach, verlass mich nie.
    Ich mache die Augen auf.
    Ach, betrüg mich nie, ach, verlass mich nie.
     
    Enttäusch mich nicht. Lass mich nicht allein.
    Ich muss sie finden.
    Ich muss sie finden.
    Ich schaue auf. Die Sonne steht am Himmel, aber ich habe keine Vorstellung davon, wie viel Zeit vergangen ist, seit Aaron Viola mitgenommen hat. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Jetzt ist es bewölkt, aber taghell, also muss es später Vormittag oder früher Nachmittag sein. Vielleicht ist seitdem mehr als nur ein Tag verstrichen – ein Gedanke, den ich sofort beiseiteschiebe.
    Ich schließe die Augen und lausche. Es hat aufgehört zu regnen, es tropft und prasselt nicht mehr, aber der einzige Lärm, den ich höre, ist mein eigener und der von Mancheeund das ferne, wortlose Geschnatter der Waldtiere, die ihr Leben weiterleben, das so gar nichts mit meinem zu tun hat. Kein Laut von Aaron. Keine Stille von Viola.
    Ich schlage die Augen auf und mein Blick fällt auf die Tasche.
    Sie hat sie fallen gelassen, als sie mit Aaron kämpfte, für ihn war sie uninteressant und nutzlos, deshalb liegt sie da, ist ohne Besitzer, und es scheint völlig egal zu sein, dass sie Viola gehörte.
    Die Tasche, die so voller nutzloser und nützlicher Dinge steckt.
    Meine Brust wird ganz klein und ich muss husten.
    Da ich offenbar nicht aufstehen kann, krieche ich vorwärts, keuche vor lauter Schmerzen in Kopf und Rücken, aber ich arbeite mich weiter voran, Manchee bellt ganz besorgt: »Todd, Todd«, und ich brauche ewig, ich brauche verdammt noch mal viel zu lange, aber ich schaffe es bis zur Tasche, auch wenn ich einen Augenblick lang zusammengekrümmt verharre, ehe ich überhaupt etwas mit ihr anfangen kann. Als ich wieder Luft bekomme, öffne ich sie und taste darin herum, bis ich die Schachtel mit dem Verbandszeug finde. Nur noch ein Verband ist übrig, er muss genügen. Dann mache ich mich daran, mein Hemd auszuziehen. Ich muss immer wieder innehalten, Atem holen, Zentimeter für Zentimeter

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