Die Flucht
der Ladefläche seines Karrens absetzt. Darauf türmen sich in einem wilden Durcheinander Kisten und Schachteln, die mit Lederplanen abgedeckt sind, dazwischen stehen Möbelstücke und große Körbe.
»Es ist zu spät«, sage ich. »Es ist aus.«
Die Frau ist inzwischen vom Sitz gestiegen und zur Rückseite des Wagens gekommen, um mich in Augenschein zu nehmen. Sie ist stämmig, ihre Kleider sind verschlissen, das Haar wirr, in den Augenwinkeln hat sie Krähenfüße, und sie spricht so piepsig und schnell, dass ich an eine Maus denken muss. »Was is passiert, Kleiner?«
»Sie ist weg.« Mein Kinn fängt an zu zittern und meine Kehle wird ganz eng. »Ich hab sie verloren.«
Ich spüre, wie sich eine kühle Hand auf meine Stirn legt, es ist ein so gutes Gefühl, dass ich meine Stirn dagegendrücke. Sie zieht die Hand wieder weg und sagt zu Wilf: »Fieber.«
»Ja«, brummt Wilf.
»Am besten ist ein Umschlag«, fährt die Frau fort, und ich glaube, sie steigt in den Straßengraben, aber das scheint mir völlig sinnlos.
»Wo ist Hildy, Ben?«, fragt Wilf und versucht meinen Blick festzuhalten. In meinen Augen sind so viele Tränen, dass ich ihn gar nicht richtig erkennen kann.
»Sie heißt nicht Hildy«, sage ich.
»Weiß schon«, sagt Wilf, »aber so habters gesagt.«
»Sie ist nicht mehr da.« Meine Augen quellen fast über und mein Kopf sinkt auf die Brust. Ich spüre, wie Wilf mir die Hand auf die Schulter legt und mich drückt.
»Todd?«, höre ich Manchee bellen, irgendwo abseits der Straße.
»Ich heiße nicht Ben«, sage ich zu Wilf, ohne ihn anzuschauen.
»Weiß schon«, sagt Wilf wieder. »Aber so ham wer zu dir gesagt.«
Ich schaue hoch. Sein Gesicht und sein Lärm sind so ausdruckslos, wie ich sie in Erinnerung habe, aber eines habe ich für alle Zeiten gelernt: Selbst wenn man weiß, was ein Mann denkt, kennt man ihn trotzdem noch nicht.
Wilf schweigt und geht wieder nach vorn. Die Frau kommt zurück, übel riechende Lumpen in der Hand. Sie stinken nach Wurzeln, Schlamm und widerlichen Kräutern, aber ich bin soerschöpft, dass ich mich nicht wehre, als die Frau sie mir um die Stirn wickelt, direkt auf den Verband, der an meiner Schläfe klebt.
»Is gut gegen Fieber«, sagt sie und klettert auf den Karren. Wir beide rutschen ein Stück nach vorn, als Wilf mit den Zügeln schnalzt und die Ochsen anziehen. Mit großen Augen schaut mich die Frau prüfend an. »Rennst wohl auch wegen der Armee weg?«
Die Stille, die sie ausstrahlt, erinnert mich so sehr an Viola, dass ich mich beherrschen muss, um mich nicht einfach an sie zu lehnen. »So ähnlich«, sage ich.
»Du hastes Wilf erzählt, was ?«, fragt sie. »Du und das Mädchen, ihr habt was von der Armee gesagt und dassers allen sagen soll, damit se fliehen, was?«
Ich blicke zu ihr hoch, über mein Gesicht rinnt stinkender, brauner Wurzelsud, dann drehe ich mich um und sehe Wilf oben auf dem Bock sitzen und sein Ochsengespann lenken. Er merkt, dass ich ihn anschaue. »Diesmal hamse auf Wilf gehört«, sagt er.
Ich blicke an ihm vorbei auf die Straße vor uns. Als wir um eine Kurve biegen, höre ich nicht nur rechts von mir den Fluss rauschen wie einen alten Freund oder einen alten Feind, ich sehe auch eine Wagenkolonne, die sich mindestens bis zur nächsten Kurve hinzieht, Wagen, voll bepackt mit Habseligkeiten, so wie der von Wilf, und auf den Karren sitzen alle möglichen Leute und halten sich fest, damit sie nicht runterfallen.
Es ist eine Karawane. Wilf fährt am Ende des langen Zugs. Es sind Männer und Frauen und sogar Kinder, glaube ich, falls der Gestank, den das Ding um meinen Kopf verströmt, mirnicht den Verstand vernebelt. Ihr Lärm und ihre Stille steigt auf, wogt hin und her wie ein großes, geräuschvolles Wesen.
Armee höre ich oft. Armee und Armee und nochmals Armee .
Und verfluchter Ort .
»Brockley Falls?«, frage ich.
»Auch Bar Vista«, sagt die Frau und nickt. »Und andere. Ging alles schnell wie der Wind. Da isne Armee aus der verfluchten Stadt, hats geheißen, sie kommt näher und näher und wird immer größer, weil Männer ihre Waffen holen und mitmachen.«
Eine Armee, größer und größer, je näher sie kommt, wiederhole ich in Gedanken.
»Sollen schon Tausende sein«, sagt die Frau.
Wilf schnaubt höhnisch. »Zwischen hier und der verfluchten Stadt gibt’s gar nicht so viele Leute.«
Die Frau schürzt die Lippen. »Ich sag nur, was alle sagen.«
Ich blicke zurück auf die Straße, die verlassen hinter
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