Die Flucht
von einem gehört, wo alle Masken aufhaben, damit keiner das Gesicht des anderen sieht. Und es gibt eines, da singen sie den lieben langen Tag, so verrückt sind die. Und in einem anderen sind die Wände aus Glas und keiner hat was an, weil man wegen des Lärms sowieso nichts verbergen kann.«
Sie ist jetzt näher an mich herangerückt. Ich kann ihren Atem riechen, der schlimmer stinkt als der Lumpen, und ich spüre die Stille in ihren Worten. Wie ist das möglich? Wie kann Stille so schrill sein?
»Man kann auch im Lärm Geheimnisse haben«, sage ich. »Man kann alles Mögliche für sich behalten.«
»Lass den Jungen in Ruhe«, ruft Wilf von seinem Kutschbock aus nach hinten.
Janes Gesicht wird schlaff. »Tut mir leid«, grummelt sie. Ich richte mich ein wenig auf und merke, wie gut es mir tut,etwas im Magen zu haben, ganz egal, ob dieser stinkenden Lumpen nun geholfen hat oder nicht.
Wir sind weiter zum Ende der Karawane aufgerückt, nahe genug, um die Köpfe von hinten zu sehen und den Lärmwirrwarr der Männer zu hören und die Stille der Frauen, die wie ein Stein in einem Bach zwischen ihnen liegt.
Ab und zu dreht sich einer von ihnen, meistens ein Mann, nach uns um, ich glaube, sie wollen mich ausforschen, wollen wissen, woran sie mit mir sind.
»Ich muss sie finden« sage ich.
»Dein Mädchen?«, fragt Jane.
»Ja«, sage ich. »Vielen Dank für alles, aber ich muss gehen.«
»Aber dein Fieber! Und die Dörfer!«
»Ich pass schon auf.« Ich ziehe an dem schmutzigen Lumpen um meinem Kopf. »Komm, Manchee.«
»Du kannst nicht gehen«, sagt Jane, ihre Augen sind weiter aufgerissen als je zuvor, ich lese Sorge darin. »Die Armee ...«
»Ich werde mich vor der Armee schon in Acht nehmen.« Ich richte mich vollends auf und will herunterspringen. Aber ich bin noch wacklig auf den Beinen. Ich muss erst ein-, zweimal tief Luft holen, ehe ich es wagen kann.
»Aber die werden dich erwischen!«, sagt Jane etwas lauter. »Du bist doch einer aus Prentisstown ...«
Mein Kopf schnellt hoch.
Jane schlägt erschrocken die Hand vor den Mund. »Frau!«, schreit Wilf von vorne.
»Das wollt ich nicht«, flüstert sie.
Aber es ist zu spät. Schon rast das Wort wie ein Lauffeuer durch die Karawane, seine Wirkung ist mir so vertraut, und esist nicht nur das Wort, das sie hervorruft, sondern das, was mir dadurch anhaftet, was jedermann weiß oder über mich zu wissen glaubt. Schon wenden sich die ersten Gesichter um, Blicke richten sich auf den letzten Wagen des Zugs, Ochsen und Pferde werden angehalten, damit die Leute uns genauer betrachten können.
Die Blicke und der Lärm der anderen sind jetzt auf uns gerichtet.
»Wen hast du hinten auf deinem Wagen, Wilf?«, fragt ein Mann, der im Wagen direkt vor uns sitzt.
»’nen Jungen, der Fieber hat«, ruft Wilf zurück. »Ganz wirr im Kopf vor Krankheit. Weiß nicht, was er redet.«
»Bist du dir sicher?«
»Aber allemal«, erwidert Wilf. »Nur ein kranker Junge.« »Bring ihn her«, ruft eine Frau. »Zeig ihn uns.«
»Und wenn er ein Spion ist?«, ruft eine andere Frau dazwischen, ihre Stimme überschlägt sich fast. »Wenn er die Armee zu uns führt?«
»Wir brauchen keine Spione!«, ruft ein Mann.
»Es ist Ben«, beruhigt sie Wilf. »Aus Farbranch. Hat Albträume, weil die aus der verfluchten Stadt seine Leute getötet haben. Für den leg ich meine Hand ins Feuer.«
Eine Minute lang sagt niemand etwas, aber der Lärm der Männer summt wie ein Bienenschwarm. Alle Augen sind auf uns gerichtet. Ich gebe mir Mühe, fiebriger dreinzuschauen und ganz fest an den Überfall auf Farbranch zu denken. Es fällt mir nicht schwer und es macht mich traurig.
Eine Weile lang sagt niemand ein Wort und diese Stille ist so laut wie eine kreischende Menschenmenge.
Und dann ist es vorbei. Langsam setzen sich die Ochsenund Pferde wieder in Bewegung, die Menschen schauen zwar immer noch zurück, aber wenigstens sind sie uns nicht mehr so nahe. Wilf zieht die Zügel seines Ochsengespanns an, aber er lässt es langsamer rollen als die übrigen Wagen, lässt die Lücke zwischen uns und den anderen größer werden.
»Tut mir leid«, sagt Jane atemlos. »Wilf hat mir verboten, davon zu reden. Er hat’s gesagt, aber ...«
»Ist schon in Ordnung.« Ich möchte nur, dass sie endlich zu reden aufhört.
»Tut mir so leid.«
Es gibt einen Ruck, Wilf hat den Wagen angehalten. Er wartet, bis der Zug sich ein Stück entfernt hat, dann springt er vom Sitzbock und kommt nach
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