Die Flucht
wieder vorkommt und alles heißt, was man sich vorstellen kann: Fragen über mich und Freude darüber, seinen Vater zu sehen, dass er ihn liebt, alles in einem Wort.
»Hallo, mein Freund«, begrüßt ihn Doktor Snow. »Jacob, das ist Todd. Er ist gerade aufgewacht.«
Daumen lutschend steht Jacob da und betrachtet mich mit ernster Miene, dann nickt er fast unmerklich. »Die Ziege gibt keine Milch«, sagt er ruhig.
»Sie gibt keine Milch?«, fragt Doktor Snow und steht auf. »Nun, dann müssen wir wohl gleich zu ihr gehen und ihr gut zureden.«
Daddy Daddy Daddy, tanzt Jacobs Lärm.
»Ich kümmere mich um die Ziege«, sagt Doktor Snow zu mir. »Und dann rufe ich die anderen Ältesten zusammen.« Ich kann nicht aufhören, Jacob anzugaffen. Der nicht aufhören kann, mich anzugaffen.
Er ist mir so viel näher, als die Kinder in Farbranch es waren.
Und er ist so klein.
Ob ich auch einmal so klein war?
Doktor Snow redet immer noch. »Ich werde die Ältesten herbringen, und dann werden wir sehen, ob du uns helfen kannst.« Er beugt sich zu mir, bis ich ihn ansehe. »Und ob wir dir helfen können.«
Sein Lärm ist aufrichtig, wahrhaftig. Ich glaube, er meint, was er sagt. Ich glaube trotzdem, dass er sich irrt.
»Vielleicht«, sagt er mit einem Lächeln. »Vielleicht aber auch nicht. Du hast den Ort hier noch nicht einmal gesehen. Komm mit, Jake.« Er nimmt seinen Sohn bei der Hand. »In der Küche ist Essen. Ich wette, ihr sterbt schon vor Hunger. In einer Stunde bin ich wieder da.«
Ich gehe zur Tür und sehe ihnen nach. Jacob, den Daumen immer noch im Mund, blickt sich nach mir um, bis sich hinter ihm und seinem Vater die Tür schließt.
»Wie alt er wohl ist?«, frage ich Viola. »Ich weiß gar nicht, wie alt er ist.«
»Jacob ist vier«, antwortet sie. »Er hat es mir ungefähr achthundertmal erzählt. Aber er ist ein bisschen jung, um Ziegen zu melken.«
»Nicht hier in New World«, sage ich. Ich drehe mich zu ihr um. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und sieht mich ernst an.
»Komm und iss«, sagt sie. »Und dann müssen wir reden.«
33
Carbonel Downs
Sie führt mich in eine Küche, die ebenso sauber und aufgeräumt ist wie das Schlafzimmer. Draußen rauscht immer noch der Fluss vorbei, außerdem hört man den Lärm der Vögel, die Musik ...
»Was ist das für Musik?«, frage ich und trete ans Fenster. Manchmal glaube ich, dass sie mir bekannt vorkommt, aber wenn ich dann aufmerksamer lausche, höre ich nur Stimmen, die sich mit anderen Stimmen vermischen.
»Sie kommt aus Lautsprechern in der Ortsmitte«, erklärt Viola und stellt eine Platte mit kaltem Braten vor mich hin.
Ich setze mich an den Tisch. »Ist hier ein Fest im Gange?«
»Nein«, antwortet sie mit einer Stimme, die sagen will: »Warte einen Moment.« Sie holt Brot und orangefarbene Früchte, die ich noch nie zuvor gesehen habe, dazu ein rotes Getränk, das nach Beeren und Zucker schmeckt.
Ich lange kräftig zu. »Dann erzähl es mir.«
»Doktor Snow ist ein guter Mensch«, beginnt sie, so als müsste ich das vorab wissen. »Er ist durch und durch gut und freundlich. Er hat sich so sehr angestrengt, dich zu retten, Todd, das kannst du mir glauben.«
»Okay. Und was weiter?«
»Die Musik spielt Tag und Nacht«, sagt sie und sieht mirzu, wie ich esse. »Hier im Haus hört man sie nur leise, aber in der Ortsmitte verstehst du deinen eigenen Gedanken nicht mehr.«
Ich höre auf zu kauen und sage mit vollem Mund: »Wie in der Kneipe.«
»In welcher Kneipe?«
»In der Kneipe in Prent... Woher, glauben die Leute hier, kommen wir?«
»Aus Farbranch.«
»Ich werde mir Mühe geben«, seufze ich und mache mich über das Obst her. »In der Kneipe der Stadt, aus der ich komme, spielte die Musik den ganzen Tag. Sie sollte den Lärm ertränken.«
Sie nickt. »Ich habe Doktor Snow gefragt, weshalb man es hier macht, und er gab mir zur Antwort: ›Damit die Männer ihre Gedanken für sich behalten können‹.«
Ich zucke die Schultern. »Es ist ein fürchterlicher Radau, aber in gewisser Hinsicht ist das doch nicht verkehrt, meinst du nicht? Das ist eben eine Art, mit dem Lärm umzugehen.«
»Mit dem Lärm der Männer, Todd«, sagt sie. »Ist dir aufgefallen, dass er sagte, er wolle die Männer des Ältestenrats bitten, herzukommen und dich zu befragen?«
Mir kommt ein schrecklicher Gedanke. »Sind hier auch alle Frauen gestorben?«
»Oh nein, es gibt Frauen hier«, sagt sie und hantiert mit einem kleinen Küchenmesser. »Sie
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