Die Flucht
»Noch einmal.« Ich atme ein und aus. Und stelle fest, dass ich tatsächlich aus- und einatmen kann, bis meine Lunge prall gefüllt ist.
»Du warst sehr krank«, sagt er. »Ich war mir nicht sicher, ob wir deine Krankheit besiegen würden. Bis gestern war sogar dein Lärm verstummt.« Er schaut mich an. »So etwas ist mir seit Langem nicht mehr untergekommen.«
»Ähm, ja«, sage ich.
»Von einem Angriff der Spackle habe ich seit langer, langer Zeit nichts mehr gehört.«
Ich antworte nicht, atme nur tief durch. »Das ist gut so, Todd«, lobt der Arzt. »Könntest du dein Hemd ausziehen?« Ich schaue ihn an, dann Viola.
»Ich warte draußen«, sagt sie und schon ist sie weg.
Ich fasse über den Kopf, um mir das Hemd über die Schultern zu ziehen, und dabei fällt mir auf, dass ich gar keine Schmerzen mehr zwischen meinen Schulterblättern verspüre.
»Hab ein paar Stiche dafür gebraucht«, sagt Doktor Snow und tritt hinter mich. Er drückt mir den Apparat auf den Rücken.
Ich zucke zurück. »Das ist kalt.«
»Sie ist nicht von deiner Seite gewichen«, fährt er ungerührt fort und hört meine Lunge an verschiedenen Stellen ab. »Nicht einmal zum Schlafen.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Heute ist der fünfte Morgen.«
»Fünf Tage?« Ich warte seine Antwort erst gar nicht ab, sondern schlage die Decke zurück und stehe auf.
»Wir müssen fort von hier.« Ich bin noch etwas wackelig auf den Beinen, aber immerhin, ich stehe.
Viola lehnt am Türrahmen. »Ich habe versucht es ihnen zu erklären, Todd.«
»Ihr seid hier sicher«, sagt Doktor Snow.
»Das haben wir schon einmal gehört.« Mit einem Blick suche ich Violas Unterstützung, aber sie unterdrückt ein Lächeln, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich in löchrigen und fürchterlich abgetragenen Unterhosen vor ihr stehe, die weniger verhüllen, als sie sollten. »Hey!«, rufe ich und bedecke schnell die entscheidenden Stellen mit den Händen.
»Ihr seid hier sicherer als irgendwo sonst«, sagt Doktor Snow hinter mir. Er reicht mir eine Hose, die ordentlich gefaltet auf einem Stoß gewaschener Wäsche hinter meinem Bett lag. »Im Krieg verlief hier eine der wichtigsten Frontlinien. Wir wissen also, wie wir uns verteidigen müssen.«
»Damals waren es Spackle.« Ich drehe mich von Viola weg und ziehe die Hose an. »Aber jetzt sind es viele. Tausende.«
»Stimmt, wenn man den Gerüchten glauben darf«, erwidert Doktor Snow. »Obwohl eine so große Anzahl eigentlich gar nicht möglich ist.«
»Keine Ahnung«, antworte ich. »Aber sie haben Gewehre.« »Die haben wir auch.«
»Und Pferde.«
»Auch die haben wir.«
»Gibt es hier Leute, die sich ihnen anschließen werden?«, frage ich herausfordernd.
Er erwidert nichts, wie ich zufrieden bemerke – und zugleich auch enttäuscht. Ich knöpfe meine Hose zu. »Wir müssen gehen.«
»Ihr müsst euch ausruhen«, sagt der Arzt.
»Wir werden nicht einfach hierbleiben und warten, bis die Armee auftaucht.« Ich wende mich um, denn ich will sehen, ob ich auch für Viola spreche. Ich drehe mich, ohne nachzudenken, dorthin um, wo mein Hund gewartet hätte, damit ich auch ihn fragen kann.
Als mein Lärm das Zimmer mit Gedanken an Manchee überflutet, herrscht einen Augenblick Stille, nur Manchee ist im Raum, hier neben mir, er bellt und bellt und muss mal kacken und bellt noch mehr.
Und stirbt.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
(Er ist tot, er ist tot.)
Ich fühle mich so leer. So völlig leer.
»Niemand wird dich zwingen, etwas zu tun, was du nicht willst, Todd«, sagt Doktor Snow freundlich. »Aber die Männer des Ältestenrats würden gerne mit dir reden, ehe du uns verlässt.«
Meine Lippen werden schmal. »Worüber?«
»Über alles, was uns helfen könnte.«
»Wie könnte ich helfen?« Ich schnappe mir ein gewaschenes Hemd. »Die Armee wird kommen und jeden umbringen, der sich ihr nicht anschließt. So einfach ist das.«
»Hier ist unsere Heimat, Todd«, sagt der Arzt. »Wir werden sie verteidigen. Wir haben keine andere Wahl.«
»Mit mir könnt ihr nicht rechnen«, erwidere ich, da hören wir: »Daddy?«
Ein kleiner Junge steht in der Tür, gleich neben Viola. Ein richtiger Junge.
Er sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Lärm ist ein ulkiges, helles, weites Etwas, und ich komme darin vor, dürr und Narbe und schlafender Junge höre ich, und zugleich sind da alle möglichen liebevollen Gedanken an seinen Vater, ausgedrückt allein durch das Wort Daddy , das immer
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