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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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aufgerissen in einem endlosen, stummen Wehklagen, das aus der Schwärze tief in mir kommt.
    Ich stürze hinab in diese Finsternis.
    Und ich weiß von nichts mehr, als uns der Fluss weiter- und weiter- und weitertreibt.

T EIL VI

32
    Flussabwärts
    Das Rauschen von Wasser.
    Und Vogelgezwitscher.
    Wo bin ich geborgen?, singen sie. Wo bin ich geborgen?
    Und dahinter ist Musik zu hören.
    Ich schwöre es, da ist Musik.
    Fetzen von Musik, schwebend, fremd und doch vertraut. Und vor der Dunkelheit fließen Lichtschleier, weiße und gelbe.
    Und Wärme.
    Und etwas Weiches auf meiner Haut.
    Und neben mir ist Stille, die mich so kräftig umspült wie immer.
    Ich schlage die Augen auf.
    Ich liege in einem Bett, unter einer Decke, in einem kleinen, rechteckigen Zimmer mit weiß getünchten Wänden. Wenigstens zwei Fenster sind geöffnet, durch die das Sonnenlicht und das Rauschen des Flusses zu mir hereindringen, und in den Bäumen flattern Vögel (und Musik, ist das Musik?). Einen Augenblick lang weiß ich nicht einmal, wer ich bin, geschweige denn, wo ich bin oder was geschehen ist oder warum ich solche Schmerzen ...
    Mein Blick fällt auf Viola, sie kauert zusammengerollt auf einem Sessel gleich neben dem Bett und atmet durch den offenen Mund. Die Hände hat sie zwischen die Schenkel gepresst.
    Ich bin zu schwach, um selbst etwas zu sagen, deshalb rufe ich sie nur in meinem Lärm. Ich muss ihren Namen aber dennoch laut genug gesagt haben, denn sie öffnet blinzelnd die Augen, und wie ein Blitz ist sie aus ihrem Sessel aufgesprungen, schlingt die Arme um mich und drückt meine Nase gegen ihr Schlüsselbein.
    »Oh mein Gott«, ruft sie und zieht mich so fest an sich, dass es fast wehtut. »Todd!«
    Ich lege meine Hand auf ihren Rücken und atme Violas Duft ein.
    Blumen.
    »Ich dachte schon, du würdest nie mehr aufwachen«, sagt sie und drückt mich noch fester. »Ich dachte, du wärst tot.«
    »War ich das nicht?«, krächze ich und versuche mich zu entsinnen.
    »Du warst krank.« Viola lehnt sich zurück, die Knie hat sie gegen mein Bett gestützt. »Sehr krank. Doktor Snow war nicht sicher, ob du jemals wieder aufwachen würdest, und wenn ein Doktor so etwas sagt ...«
    »Wer ist Doktor Snow?« Ich sehe mich in dem kleinen Zimmer um. »Wo sind wir? Sind wir in Haven? Und woher kommt diese Musik?«
    »Wir sind in einer Siedlung, die Carbonel Downs heißt«, sagt sie. »Wir sind den Fluss hinabgetrieben und ...«
    Sie unterbricht sich, denn sie bemerkt, wie ich zum Fußende des Betts blicke.
    Dorthin, wo Manchee nicht ist.
    Ich erinnere mich wieder.
    Meine Brust wird eng, meine Kehle schnürt sich zusammen. In meinem Lärm höre ich ihn bellen. »Todd?«, fragt er, verwundert, dass ich ihn zurücklasse. »Todd?«, mit einem Fragezeichen, so wie er immer gefragt hat, wenn er wissen wollte, wohin ich ohne ihn gehe.
    »Er ist tot«, sage ich zu mir selbst.
    Viola scheint etwas antworten zu wollen, aber als ich zu ihr hochschaue, glitzert es in ihren Augen und sie nickt nur. Das war die Antwort, mehr wollte ich gar nicht hören.
    Er ist tot.
    Er ist tot.
    Und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
    »Ist das Lärm, was ich da höre?«, fragt eine laute Stimme durch eine Tür hindurch, die sich jetzt am Fußende des Betts öffnet. Ein Mann, dessen eigener Lärm ihm vorauseilt, kommt herein, ein großer Mann, hochgewachsen und breitschultrig, mit einer Brille, die seine Augen hervortreten lässt, mit wirrem Haar und einem schiefen Lächeln. Sein Lärm spricht so von Erleichterung und Freude, dass ich mich beherrschen muss, um nicht aus dem Fenster hinter mir zu klettern.
    »Doktor Snow«, stellt Viola den Mann vor und hüpft schnell vom Bett, um ihm Platz zu machen.
    »Schön, dich endlich richtig kennenzulernen, Todd«, begrüßt mich Doktor Snow mit breitem Grinsen. Er setzt sich aufs Bett und holt ein Gerät aus der Hemdtasche hervor. Zwei Enden davon steckt er sich in die Ohren, das andere Ende drückt er mir wortlos auf die Brust.
    »Kannst du mir einen Gefallen tun und tief atmen?«
    Ich tue gar nichts, schaue ihn nur an.
    »Ich will nachsehen, ob deine Lunge wieder frei ist«, sagt er.
    Ich weiß jetzt, was mir an ihm auffällt. Er spricht die Wörter fast genauso aus wie Viola.
    »Nicht genau so«, bestätigt er, »aber sehr ähnlich.«
    »Er ist es, der dich gesund gemacht hat«, fügt Viola hinzu. Ich schweige und hole tief Luft.
    »Gut so«, sagt Doktor Snow und legt sein Gerät an eine andere Stelle auf meiner Brust.

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