Die Flucht
draußen ertönt ...
»Ein Lied«, sagt Viola leise. »Jemand singt.«
Jemand singt.
Und was er singt, das ist ...
»Frü-ü-üh am Mo-orgen, wenn die So-ho-honn aufgeht, eine Maid ...«
Mein Lärm wallt hoch, als ich den Namen rufe.
»Ben.«
34
Ach, verlass mich nie
Ich renne zum Ufer, bleibe stehen, lausche.
»Ach, betrüg mich nie.«
»Ben?« Ich will flüstern und schreien, alles zur gleichen Zeit.
Viola kommt keuchend hinter mir her. »Etwa dein Ben?«, fragt sie. »Ist es dein Ben?«
Ich winke ab, sie soll still sein. Angestrengt lauschend versuche ich die Geräusche des Flusses, der Vögel, meinen eigenen Lärm herauszufiltern, und dazwischen ...
»Ach, verlass mich nie.«
»Auf der anderen Uferseite«, sagt Viola und läuft über die Brücke, bei jedem Schritt erbebt das Holz. Ich folge ihr, überhole sie, lausche und schaue und lausche und schaue und dort und dort ...
Dort, in dem dichten Gebüsch auf der anderen Seite des Gewässers ...
Ben.
Es ist Ben.
Er hat sich hinter dem Blattwerk versteckt. Mit einer Hand an einen Baumstamm gelehnt, steht er da und beobachtet mich, wie ich zu ihm komme, beobachtet, wie ich über die Brücke renne, und als ich bei ihm bin, entspannt sich seineMiene und sein Lärm öffnet sich so weit für mich wie seine Arme, und ich springe auf ihn zu, springe von der Brücke in das Gebüsch. Beinahe werfe ich ihn um, und mein Herz will mir aus dem Leib springen, und mein Lärm ist so klar wie der weite, offene Himmel über uns und ...
... alles wird jetzt wieder gut werden.
Alles wird gut werden.
Alles wird gut werden.
Es ist Ben.
Er hält mich fest und sagt: »Todd«, und Viola steht ein paar Schritte hinter uns und wartet, bis wir uns begrüßt haben, und ich drücke ihn an mich, drücke ihn an mich, es ist Ben, großer Gott, es ist Ben, Ben, Ben.
»Ich bin’s«, sagt er und lacht ein bisschen, denn ich ersticke ihn beinahe. »Wie schön es ist, dich zu sehen, Todd.«
»Ben«, sage ich und trete einen Schritt zurück. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, also packe ich ihn einfach am Hemd und schüttle ihn, um ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebe. »Ben«, sage ich wieder.
Er nickt und grinst.
Aber um seine Augen sehe ich Falten, und schon höre ich, wie es in ihm hochsteigt, sodass es bald alles andere übertönt, und ich muss ihn fragen: »Cillian?«
Er sagt kein Wort, aber er lässt mich daran teilhaben. Ben, wie er zum Farmhaus zurückrennt, das schon in Flammen steht, schon niederbrennt, ein paar Männer des Bürgermeisters sind noch im Haus, aber Cillian auch, und Ben, es schmerzt ihn, es schmerzt ihn noch immer so sehr.
»Oh nein«, stöhne ich. Mein Magen rebelliert, obwohl ich all das längst vermutet habe.
Aber etwas zu vermuten und etwas zu wissen ist zweierlei.
Ben nickt wieder, langsam und traurig, und ich bemerke erst jetzt, dass er schmutzig ist und an seiner Nase Blut klebt. Er wirkt, als habe er seit einer Woche nichts gegessen, aber es ist immer noch Ben. Er kann noch immer wie kein anderer in meinem Lärm lesen, denn schon fragt er mich stumm nach Manchee, und ich zeige ihm, was geschehen ist. Dabei steigen mir die Tränen in die Augen, und er schließt mich in die Arme, und ich weine – um meinen Hund, um Cillian und um das Leben, das hinter uns liegt.
»Ich habe ihn zurückgelassen«, wiederhole ich immer wieder, hustend und mit rotztriefender Nase. »Ich habe ihn zurückgelassen.«
»Ich weiß«, sagt er, und es stimmt, denn ich höre das Gleiche in seinem Lärm. Ich habe ihn zurückgelassen , denkt er.
Aber nach nur einer Minute stößt er mich sanft zurück und sagt: »Hör zu, Todd, wie haben nicht viel Zeit.«
»Nicht viel Zeit wofür?«, schniefe ich, aber ich merke, dass er zu Viola hinüberschaut.
»Hallo«, sagte sie zögernd und misstrauisch.
»Hallo«, sagt Ben, »das bist sicher du.«
»Ja, das bin ich«, sagt sie.
»Du hast auf Todd aufgepasst?«
»Wir haben aufeinander aufgepasst.«
»Gut«, sagt Ben und sein Lärm wird warm und traurig. »Gut.«
»Komm mit.« Ich fasse ihn am Arm, will ihn zur Brücke ziehen. »Wir besorgen dir etwas zu essen. Und hier ist ein Arzt ...«
Aber Ben rührt sich nicht vom Fleck.
»Kannst du für uns Wache stehen?«, fragt er Viola. »Sag uns, wenn du irgendetwas siehst, egal was. Ob in der Siedlung oder auf der Straße.«
Viola nickt und wirft mir einen letzten Blick zu, ehe sie uns allein lässt.
»Alles ist viel schlimmer als gedacht«, beginnt Ben leise,
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