Die Flucht
sind schon da, sie haben die Brücke überquert und kommen auf uns zu.
Doktor Snow ist als Erster bei uns. Er mustert Ben von Kopf bis Fuß. »Wen haben wir denn hier?«
Und sein Lärm klingt alles andere als freundlich.
35
Das Gesetz
»Das ist Ben«, sage ich und plustere meinen Lärm auf, damit ich sämtliche Fragen der Männer abschneiden kann.
»Und was ist Ben normalerweise?«, fragt Doktor Snow, der ihn aus hellwachen Augen prüfend anblickt.
»Ben ist mein Pa«, antworte ich. Das ist doch wahr, oder nicht? Er ist es, und zwar in jeder Beziehung. »Mein Vater.«
Ich höre, wie Ben hinter mir sagt: »Todd«, in seinem Lärm vermischen sich alle möglichen Gefühle, aber am deutlichsten höre ich die Warnungen heraus.
»Dein Vater?«, fragt ein bärtiger Mann, der hinter Doktor Snow steht, seine Finger umklammern den Schaft seines Gewehrs, aber er legt es nicht an. Noch nicht.
»Du solltest dir gut überlegen, von wem du behauptest, er sei dein Vater, Todd«, sagt Doktor Snow langsam und zieht Jacob ein Stückchen näher an sich.
»Du hast gesagt, der Junge komme aus Farbranch«, mischt sich ein Dritter ein. Er hat ein dunkelrotes Muttermal unter dem Auge.
»Das hat das Mädchen jedenfalls gesagt. So ist es doch, Vi?«
Viola weicht seinem Blick nicht aus, aber sie schweigt. »Man kann nichts darauf geben, was die Weibsleute behaupten«,sagt der Bärtige. »Jede Wette, der hier kommt aus Prentisstown.«
»Und führt die Armee direkt zu uns«, fügt der mit dem Muttermal hinzu.
»Der Junge ist unschuldig«, sagt Ben. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass er seine Hände erhoben hat. »Ich bin derjenige, den ihr haben wollt.«
»Falsch«, sagt der Bärtige und seine Stimme wird immer wütender. »Du bist derjenige, den wir hier eben nicht haben wollen.«
»Einen Augenblick, Fergal«, sagt Doktor Snow. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Du kennst das Gesetz«, sagt das Muttermal.
Das Gesetz.
In Farbranch haben sie auch vom Gesetz geredet.
»Ich weiß aber auch, dass dies keine normalen Zeiten sind«, sagt Doktor Snow. »Sie sollten wenigstens die Gelegenheit haben, uns alles zu erklären.«
Ich höre, wie Ben tief Luft holt. »Nun, ich ...«
»Du nicht«, unterbricht ihn der Bärtige.
»Also, was hast du uns zu erzählen, Todd?«, fordert mich Doktor Snow auf. »Es ist äußerst wichtig, dass du uns die Wahrheit erzählst.«
Ich schaue von Viola zu Ben und zurück.
Welche Wahrheit soll ich ihnen erzählen?
Ich höre, wie der Abzugshahn eines Gewehrs gespannt wird. Der Bärtige hat seine Waffe angelegt. Und ein, zwei Männer hinter ihm ebenfalls.
»Je länger du wartest«, sagt der Bärtige, »desto mehr macht ihr euch als Spione verdächtig.«
»Wir sind keine Spione«, beteure ich sofort.
»Die Armee, von der dein Mädchen gesprochen hat, wurde am Fluss gesichtet«, erzählt Doktor Snow. »Einer unserer Kundschafter hat gerade berichtet, dass sie weniger als eine Stunde von uns entfernt ist.«
Ich höre, wie Viola flüstert: »Oh nein.«
»Sie ist nicht mein Mädchen«, sage ich leise.
»Wie bitte?«, fragt Doktor Snow.
»Was?«, fragt Viola.
»Sie gehört niemandem, nur sich selbst«, sage ich.
Viola schaut mich an, wie sie mich noch nie angesehen hat.
»Wie auch immer«, sagt der mit dem Muttermal. »Eine Armee aus Prentisstown marschiert auf unsere Stadt zu, und ein Mann aus Prentisstown versteckt sich hier im Gebüsch, zusammen mit einem Jungen aus Prentisstown, der in der letzten Woche in unserer Mitte gelebt hat. Wenn ihr mich fragt, die Sache stinkt zum Himmel.«
»Er war krank«, sagt Doktor Snow. »Er hätte es fast nicht überlebt.«
»Das behauptest du«, erwidert der mit dem Muttermal.
Doktor Snow dreht sich langsam zu ihm um. »Willst du damit andeuten, dass ich ein Lügner bin, Duncan? Hast du vergessen, dass du mit dem Vorsitzenden des Ältestenrats spricht?«
»Willst du mir erzählen, das hier ist keine abgekartete Sache, Jackson?«, fragt der mit dem Muttermal. Er lässt sich nicht einschüchtern, sondern hebt seine Waffe. »Wir werden zu Zielscheiben. Wer weiß, welche Hinweise sie ihrer Armee gegeben haben.« Er richtet seine Waffe auf Ben. »Aber damit ist jetzt Schluss.«
»Wir sind keine Spione«, beteure ich noch einmal. »Wir sind auf der Flucht vor dieser Armee und das solltet ihr auch sein.«
Die Männer werfen einander fragende Blicke zu.
In ihrem Lärm höre ich den Gedanken: lieber vor der Armee weglaufen als die Stadt verteidigen. Ich sehe
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