Die Flucht
zu, dass ihr nach Haven kommt. Das ist alles, was ihr tun könnt. Das ist das Beste.« Unsere Fragen prasseln nur so auf ihn herab.
»Sind wir in Haven sicher?«, fragt Viola. »Auch vor einer ganzen Armee?«
»Stimmt es, dass es dort ein Heilmittel gegen den Lärm gibt?«
»Existieren dort Funkgeräte? Werde ich mit meinen Leuten im Raumschiff sprechen können?«
»Meinst du wirklich, dass wir dort nicht in Gefahr sind?« Ben hebt abwehrend die Hände. »Ich weiß es nicht. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr dort.«
Viola baut sich vor ihm auf.
»Zwanzig Jahre?«, fragt sie ungläubig. »Zwanzig Jahre?« Ihre Stimme wird schrill. »Wie sollen wir dann wissen, was uns dort erwartet? Wie sollen wir wissen, ob es Haven überhaupt noch gibt?«
Ich wische mir mit der Hand übers Gesicht, und ich glaube, es ist die Leere, die Manchee hinterlassen hat, die mich auf einmal erkennen lässt, was ich mir zuvor nie eingestanden habe.
»Das weiß keiner«, sage ich und in diesem Moment sage ich nichts als die reine Wahrheit. »Wir wissen es nicht und haben es nie gewusst.«
Viola schluchzt leise auf. Sie lässt die Schultern sinken. »Nein«, sagt sie dann. »Ich schätze, du hast Recht.«
»Aber es gibt immer Hoffnung«, sagt Ben. »Du darfst nie aufhören zu hoffen.«
Wir schauen ihn an, es muss wohl ein Wort dafür geben, wie wir ihn anschauen, aber ich kenne es nicht. Wir schauen ihn an, als spräche er in einer fremden Sprache zu uns, als hätte er gerade beschlossen, auf einen der Monde auszuwandern, als würde er uns versichern, dass alles nur ein schlimmer Traum gewesen ist, und jetzt gibt’s Süßigkeiten für alle.
»Da draußen ist nicht viel Hoffnung, Ben«, sage ich schließlich.
Er schüttelt den Kopf. »Was, glaubt ihr, hat euch immer weitergehen lassen? Was, glaubt ihr, hat euch bis hierher gebracht?«
»Angst«, antwortet Viola.
»Verzweiflung«, antworte ich.
»Nein«, sagt er. »Nein. Ihr seid viel weiter gekommen, als die meisten Leute auf diesem Planeten ihr ganzes Leben lang kommen werden. Ihr habt Hindernisse und tödliche Gefahren überwunden. Ihr habt eine Armee abgewehrt und einen Irren, du hast eine tödliche Krankheit überstanden und Dinge gesehen, die nur wenige sehen werden. Wie, glaubst du, hättest du so weit kommen können ohne Hoffnung?«
Viola und ich blicken einander an.
»Ich verstehe, was du uns sagen willst, Ben«, fange ich an, »aber ...«
»Hoffnung«, fährt er fort und drückt dabei meinen Arm ganz fest. »Es ist die Hoffnung. Ich stehe hier und sage dir, es gibt Hoffnung für euch, Hoffnung für euch beide.« Er schaut Viola an, dann mich. »Die Hoffnung, dass alles gut wird.«
»Aber keine Gewissheit«, wirft sie ein. Und so gern ich diesen Gedanken unterdrücken möchte, mein Lärm gibt ihr Recht.
»Das stimmt«, sagt Ben, »aber ich glaube fest daran. Ich glaube es um euretwillen. Und das nennt man Hoffnung.« »Ben ...«
»Selbst wenn ihr es nicht glaubt«, fährt er fort, »dann glaubt wenigstens, dass ich es tue.«
»Es fiele mir leichter zu glauben, wenn du mit uns kämst«, sage ich.
»Heißt das: Mitkommen ist nicht?«, fragt Viola. Sie ist über sich selbst verwundert und verbessert rasch: »Dass er nicht mitkommt?«
Ben öffnet den Mund zu einer Antwort, überlegt es sich dann aber anders.
»Was ist die Wahrheit, Ben?«, frage ich. »Die Wahrheit, die ich kennen muss.«
Ben holt tief durch die Nase Luft. »Okay«, sagt er dann. Auf der anderen Seite des Flusses ruft jemand laut: »Todd?«
Jetzt fällt uns auf, dass die Musik in Carbonel Downs im Wettstreit liegt mit dem Lärm von Männern, die gerade die Brücke überqueren.
Dem Lärm von vielen Männern.
Das ist der andere Zweck der Musik, denke ich. Dass man die Männer nicht kommen hört.
»Viola?« Es ist Doktor Snow. »Was macht ihr beiden dort drüben?«
Ich richte mich auf. Doktor Snow kommt über die Brücke, er hat den kleinen Jacob an der Hand. Ihm folgen ein paar Männer, die weniger freundlich dreinschauen als er, sie beäugen uns argwöhnisch, und sie sehen Ben und mich und beobachten, wie ich und Viola mit ihm sprechen.
Als sie begreifen, was sie da sehen, nimmt ihr Lärm plötzlich eine völlig andere Farbe an.
Und ich begreife, dass einige von ihnen Gewehre haben. »Ben?«, frage ich leise.
»Ihr müsst fliehen«, raunt er halblaut. »Ihr müsst sofort fliehen.«
»Ich werde dich nicht verlassen. Nicht schon wieder.« »Todd ...«
»Zu spät«, sagt Viola.
Denn sie
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