Die Flucht
Gründen von der Flussstraße fern und marschieren mitten durch den Wald – wie immer in Richtung Haven und weg von Carbonel Downs, so schnell uns die Füße tragen.
Keine zehn Minuten sind vergangen, als wir die ersten Schüsse hören.
Wir blicken nicht zurück. Wir blicken nicht zurück. Wir laufen und die Schüsse werden leiser.
Wir laufen und laufen.
Viola und ich sind schneller als Ben, deshalb werden wir manchmal langsamer, damit er aufholen kann.
Wir kommen an einer, dann zwei verlassenen, kleinen Siedlungen vorbei. Hier haben die Einwohner die Gerüchte, die der Armee vorausgeeilt sind, offenbar ernster genommen als in Carbonel Downs. Die ganze Zeit über bleiben wir in dem Wald zwischen Fluss und Straße, sehen jedoch nirgendwo eine Flüchtlingskarawane. Die Menschen müssen sich sehr beeilt haben, um nach Haven zu kommen.
Es wird Nacht und wir marschieren weiter.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, frage ich Ben, als wir am Ufer haltmachen, um die Wasserflaschen nachzufüllen. »Weiter«, antwortet er keuchend. »Geht weiter.«
Viola wirft mir einen besorgten Blick zu.
»Tut mir leid, dass wir nichts zu essen haben«, sage ich, aber er schüttelt nur den Kopf und schnauft: »Weiter.«
Also laufen wir weiter.
Es wird Mitternacht und wir laufen weiter.
(Keine Ahnung, wie lange wir noch so laufen müssen. Aber wen interessiert das überhaupt?)
Irgendwann sagt Ben: »Wartet.«
Er bleibt stehen, stützt die Hände auf die Knie und atmet schwer und ungesund.
Ich sehe mich im Licht der beiden Monde um. Viola ebenfalls. Dann zeigt sie mit dem Finger. »Dort.«
»Da hinauf, Ben«, sage ich und deute auf den kleinen Hügel, den Viola gemeint hat. »Oben hat man eine gute Sicht.«
Ben nickt, holt tief Luft und folgt uns. Die Bäume stehen sehr dicht, aber wir finden einen häufig benutzten Pfad und oben befindet sich eine Lichtung.
Als wir die Anhöhe erreichen, sehen wir auch, warum hier so viele hinaufgelaufen sind.
»Ein Friedhof«, sage ich.
»Ein was?«, fragt Viola. Sie lässt den Blick über die viereckigen Steinplatten schweifen, die auf den Gräbern liegen. Es sind hundert, vielleicht sogar zweihundert, alle sauber aufgereiht, dazwischen kurz geschnittenes Gras. Das Leben der Siedler ist beschwerlich und oft kurz, viele Bewohner von New World haben den Überlebenskampf verloren.
»Es ist ein Ort, an dem man Tote begräbt«, erkläre ich ihr. Sie reißt die Augen auf. »Ein Ort wofür?«
»Sterben die Menschen im Weltraum nicht?«, frage ich. »Doch«, sagt sie und verzieht das Gesicht. »Aber wir verbrennensie. Wir legen sie nicht in Löcher.« Sie schlingt die Arme um den Oberkörper und schaut sich auf dem Friedhof um. »Hygienisch ist das nicht gerade.«
Ben schweigt noch immer. Er lässt sich neben einen Grabstein fallen und ringt nach Luft. Ich nehme einen Schluck aus der Wasserflasche, dann reiche ich sie ihm. Von hier oben kann man einen Teil der Straße überblicken und auch den Fluss, der jetzt links von uns fließt. Der Himmel ist klar, die Sterne leuchten, die Monde über uns sind im Zunehmen.
»Ben ?«, frage ich und schaue in die Nacht hinaus.
»Ja?«, antwortet er und trinkt.
»Geht’s dir gut?«
»Ja.« Sein Atem ist fast wieder normal. »Ich bin ein Mann für die Farmarbeit. Ich bin kein Läufer.«
Ich betrachte die beiden Monde. Der kleinere scheint den größeren zu jagen. Die beiden Gestirne spenden genug Licht, um Schatten zu werfen, und sie kümmern sich nicht um die Mühsal der Menschen.
Ich lausche in mich hinein, versenke mich in meinen Lärm. Und ich erkenne, dass ich bereit bin.
Jetzt ist die letzte Gelegenheit.
Und ich bin bereit.
»Ich glaube, es ist so weit.« Ich suche Bens Blick. »Wenn überhaupt, dann jetzt.«
Er leckt sich über die Lippen und trinkt. Dann schraubt er die Flasche zu. »Ich weiß«, sagt er.
»Wovon sprecht ihr?«, wundert sich Viola.
»Wo soll ich anfangen?«, fragt Ben.
»Wo du willst«, sage ich mit einem Schulterzucken. »Hauptsache, es ist die Wahrheit.«
Ich höre, wie sich Bens Lärm sammelt, wie er die Geschichte umspannt, wie er einen Faden nach dem anderen aufnimmt und schließlich jenen ergreift, an dem die ganze Geschichte hängt. Es ist der Faden, der die Wahrheit enthält und so lange und so tief verborgen war, dass ich während meiner Kindheit nicht einmal etwas von seiner Existenz wusste.
Violas Stille ist noch tonloser als sonst, auch sie hält den Atem an.
»Der Lärmbazillus war keine Kriegslist der
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