Die Flucht
Wahrheit offenbart. Endlich. Und endgültig.
Viola schüttelt den Kopf. »Willst du damit sagen ... Willst du damit wirklich sagen ...?«
Und jetzt liegt er offen vor uns.
Der Kern der Geschichte.
Das ist es, was langsam in meinem Kopf Gestalt angenommen hat, seit ich den Sumpf durchquert habe. Das ist es, was ich in den Lärmfetzen der Männer las, die mir begegnet sind, am deutlichsten bei Matthew Lyle, aber auch im Verhalten alljener, die nur das Wort »Prentisstown« hörten.
Das ist sie.
Die Wahrheit.
Ich möchte sie nicht wissen.
Aber ich spreche sie dennoch aus.
»Nachdem sie die Spackle getötet hatten«, sage ich, »töteten die Männer aus Prentisstown die Frauen.«
Viola stößt einen entsetzten Schrei aus, obwohl auch sie es schon geahnt haben muss.
»Nicht alle Männer«, sagt Ben. »Aber viele. Sie ließen sich von Bürgermeister Prentiss’ und Aarons Hetzreden beeinflussen, der behauptete, dass alles, was uns verborgen ist, von Übel sein muss. Sie töteten die Frauen und alle Männer, die sie beschützen wollten.«
»Meine Mutter«, sage ich.
Ben nickt.
Ich fühle Übelkeit in mir aufsteigen.
Meine Mutter musste sterben. Und sie wurde getötet von Menschen, die ich Tag für Tag gesehen habe.
Ich muss mich auf einen der Grabsteine setzen.
Ich muss an etwas anderes denken, an irgendetwas. Ich muss etwas anderes in meinen Lärm mischen, um diesen Gedanken ertragen zu können.
»Wer war Jessica?«, frage ich, denn ich erinnere mich an Matthew Lyles Lärm, an die Gewalt, die ich darin sah und die für mich mit einem Mal einen Sinn bekommt, obwohl sie so völlig sinnlos ist.
»Einige Leute sahen voraus, was auf uns zukommen würde«, erzählt Ben. »Jessica Elizabeth war unsere Bürgermeisterin. Sie erkannte, woher der Wind wehte.«
Jessica Elizabeth, denke ich. New Elizabeth.
»Sie ermöglichte einigen Mädchen und Jungen die Flucht durch den Sumpf«, erzählt Ben weiter. »Aber ehe sie selbst mit den Frauen und jenen Männern, die noch nicht den Verstand verloren hatten, nachkommen konnte, griffen die Leute des Bürgermeisters an.«
»Und das war das Ende«, sage ich benommen. »Aus New Elizabeth wurde Prentisstown.«
»Deine Mutter wollte nie glauben, dass so etwas geschehen könnte«, sagt Ben und hängt traurig lächelnd einer Erinnerung nach. »So voller Liebe war diese Frau, so voller Glauben an das Gute im Menschen.«
Sein Lächeln ist wie weggewischt, als er weiterspricht. »Und dann kam der Augenblick, an dem es zu spät war zu fliehen. Du warst noch zu jung, man konnte dich nicht einfach fortschicken,also brachte sie dich zu uns und bat uns, für deine Sicherheit zu sorgen, egal, was auch geschehen möge.«
Ich blicke ihn fragend an. »Wie konnte man in Prentisstown bleiben und zugleich sicher sein?«
Bens Lärm ist so schwer von Trauer, es ist ein Wunder, dass sie ihn nicht erdrückt.
»Warum bist du nicht weggegangen?«, frage ich.
Er wischt sich übers Gesicht. »Weil wir nicht glaubten, dass sie angreifen würden. Ich jedenfalls habe das nicht geglaubt. Wir hatten die beiden Farmen zusammengelegt, und ich dachte, der Sturm würde vorüberziehen, ehe etwas wirklich Schlimmes passierte. Ich hielt alles nur für dummes Gerede und Verfolgungswahn, ich nahm die Ängste deiner Mutter nicht ernst genug. Bis zuletzt glaubte ich es nicht.« Er verzieht das Gesicht. »Ich habe mich getäuscht. Ich war töricht. Ich habe absichtlich die Augen davor verschlossen.«
Mir fallen seine Worte wieder ein, mit denen er mich getröstet hat, als er von dem Spackle erfuhr.
Wir alle machen Fehler, Todd. Wir alle.
»Und dann war es zu spät«, spricht Ben weiter. »Das Verbrechen war geschehen und die Nachricht von den Ereignissen in Prentisstown verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Vor allem durch die wenigen, denen es gelungen war zu entkommen. Alle Männer aus Prentisstown wurden zu Verbrechern erklärt. Danach konnten wir die Stadt nicht mehr verlassen.«
Viola hat die Arme vor der Brust verschränkt. »Und weshalb hat euch niemand geholt? Warum sind die Menschen von New World nicht in Prentisstown eingerückt?«
»Was hätten sie tun sollen?«, fragt Ben müde. »Noch einen Krieg führen, diesmal gegen schwer bewaffnete Männer? Unsalle in ein riesiges Gefängnis einsperren? Sie erließen ein Gesetz, nach dem jeder Mann aus Prentisstown, der sich jenseits des Sumpfs blicken lässt, hingerichtet wird. Und dann überließen sie uns uns selbst.«
Viola streckt hilflos die Hände
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