Die Flucht
Prentiss ebenso wahnsinnig wie Aaron«, sagt Viola.
»Nicht ganz«, sagt Ben. »Aaron ist wahnsinnig. Aber der Bürgermeister ist klug genug, den Wahnsinn für seine Ziele einzusetzen.«
»Und welche sind das?«, fragt Viola.
»Diese Welt«, antwortet Ben ruhig. »Er will alles.«
Ich öffne den Mund, um noch mehr Fragen zu stellen, auf die ich eigentlich gar keine Antwort haben will, doch da hören wir es.
Tam-ta-ta-tam-tata-tam. Es kommt von der Straße, es ist wie ein Witz, der nie ein Ende findet.
»Das kann nicht sein«, sagt Viola.
Ben ist schon aufgesprungen. Er lauscht. »Klingt, als ob es nur ein Pferd wäre.«
Wir starren auf die Straße, die schwach im Mondlicht glänzt.
»Das Fernglas«, sagt Viola. Sie steht jetzt dicht neben mir. Wortlos angle ich es aus der Tasche, schalte auf Nachtsicht und spähe hindurch. Ich suche nach der Quelle des Hufgetrappels, das die Nachtluft zu uns trägt.
Tam-ta-ta-tam-tata-tam.
Ich suche die Straße ab, bis zurück zu ...
Und da ist der Reiter.
Da ist er.
Wer sonst?
Prentiss junior, er lebt, sitzt auf seinem Pferd, ohne Fesseln.
»Verdammt«, höre ich Viola sagen, denn sie hat es in meinem Lärm gelesen. Ich reiche ihr das Fernglas.
»Ist es Davy Prentiss?«, fragt Ben, der meinen Lärm ebenfalls gelesen hat.
»Der und kein anderer.« Ich verstaue unsere Wasserflaschen in Violas Tasche. »Wir müssen gehen.«
Viola gibt Ben das Fernglas und er überzeugt sich selbst. Als er es wieder absetzt, betrachtet er es kurz. »Nettes Gerät«, sagt er.
»Wir müssen uns beeilen«, drängt Viola. »Wie schon so oft.«
Ben schaut uns an, das Fernglas in der Hand. Er schaut von einem zum anderen und ein Bild formt sich in seinem Lärm. »Ben ...«, will ich ihm zuvorkommen.
»Nein«, sagt er. »Hier verlasse ich euch.«
»Ben ...«
»Ich komme mit diesem Davy Dreckskerl Prentiss schon zurecht.«
»Er hat ein Gewehr«, sage ich. »Du nicht.«
Ben tritt ganz nah an mich heran. »Todd ...«
»Nein, Ben.« Meine Stimme wird schrill. »Ich höre dir nicht zu.«
Er schaut mir direkt in die Augen, und mir fällt auf, dass er sich dabei gar nicht mehr bücken muss.
»Todd«, sagt er wieder. »Ich habe meine Fehler gutmachen wollen, indem ich für dich gesorgt habe.«
»Du darfst mich nicht verlassen, Ben!«, flehe ich, und meineStimme wird tränennass (halt die Klappe). »Nicht noch einmal.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht mit euch nach Haven gehen. Ich kann nicht. Ich bin der Feind.«
»Wir können alles erklären, was geschehen ist.«
Er schüttelt den Kopf.
»Das Pferd kommt näher«, sagt Viola. Tam-ta-ta-tam-tata-tam.
»Wenn ich mich überhaupt ›Mann‹ nennen darf «, sagt Ben, und seine Stimme ist fest wie ein Fels, »dann nur, weil ich dafür gesorgt habe, dass du selbst zum Mann geworden bist.«
»Ich bin doch noch kein Mann, Ben«, sage ich mit belegter Stimme (halt die Klappe). »Ich weiß nicht einmal, wie viele Tage es bis dahin noch sind.«
Er lächelt mich an, und dieses Lächeln sagt mir, dass es im Grunde schon vorüber ist.
»Sechzehn«, sagt er. »Sechzehn Tage sind es noch bis zu deinem Geburtstag.« Er fasst mich am Kinn und hebt es hoch. »Aber du bist schon seit Langem ein Mann. Lass dir von niemandem etwas anderes erzählen.«
»Ben ...«
»Geht.« Er reicht Viola hinter mir das Fernglas und dann umarmt er mich. »Kein Vater könnte stolzer auf dich sein«, flüstert er mir ins Ohr.
»Nein!« Meine Worte sind ganz verschwommen. »Das Schicksal ist nicht fair.«
»Nein, das ist es nicht.« Er reißt sich los. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Denk daran.«
»Geh nicht«, bitte ich.
»Ich muss. Die Gefahr kommt immer näher.«
»Sie ist schon fast da«, sagt Viola mit dem Fernglas an den Augen.
Tam-ta-ta-tam-tata-tam.
»Ich werde ihn aufhalten. Das verschafft euch Zeit.« Ben schaut Viola an. »Pass auf ihn auf«, sagt er. »Gibst du mir dein Wort darauf?«
»Ich gebe dir mein Wort«, antwortet Viola.
»Ben, bitte«, flüstere ich. »Bitte.«
Ein letztes Mal fasst er mich an den Schultern. »Verlier nie die Hoffnung«, sagt er.
Dann dreht er sich um und hastet zur Straße hinunter. Als er dort angelangt ist, blickt er sich noch einmal nach uns um. »Worauf wartet ihr?«, ruft er. »Lauft!«
37
Wozu?
Ich werde nicht über das sprechen, was mir durch den Sinn geht, als wir in die entgegengesetzte Richtung laufen, weg von Ben, und diesmal für immer. Wie soll das Leben nur weitergehen?
Leben ist
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