Die Flucht
schnell, wie unsere Müdigkeit es zulässt. Es ist immer noch dieselbe staubige, gewundene, manchmal schlammige Straße am Fluss, wie sie es schon vor vielen, vielen Meilen war, und um uns herum ist dieselbe grüne, waldreiche New World.
Wenn man gerade eben hier gelandet wäre und rein gar nichts über diesen Planeten wüsste, könnte man ihn glatt für den Garten Eden halten.
Vor uns tut sich ein weites Tal auf, in dessen Sohle der Fluss dahinfließt. Zu beiden Seiten steigt das Gelände bis zu einer Hügelkette in weiter Ferne an. Nur das Mondlicht fällt auf dasLand, nirgends die Spur einer Siedlung, so weit das Auge reicht, nirgendwo brennt ein Licht.
Auch von Haven ist weit und breit nichts zu sehen. Allerdings sind wir jetzt am niedrigsten Punkt des Tals angelangt und die gewundene Straße bietet weder nach vorn noch nach hinten eine gute Sicht. Außerdem zieht sich Wald an beiden Ufern entlang. Man könnte meinen, New World hätte die Fensterläden zugeschlagen und alle wären gegangen und hätten nur diese eine Straße zurückgelassen.
Wir gehen weiter.
Und weiter.
Wir halten erst an, als sich die Morgendämmerung hervorwagt, erst dann schöpfen wir Wasser aus dem Fluss.
Wir trinken. Nur mein Lärm und das Rauschen des Flusses sind zu hören. Keine Hufschläge. Kein anderer Lärm.
»Das heißt, es hat geklappt«, sagt Viola, ohne mich anzuschauen. »Was auch immer er gemacht hat, er hat den Mann auf dem Pferd aufgehalten.«
Ich brumme nur ein Hm und nicke.
»Wir haben keine Gewehrschüsse gehört.«
Ich mache wieder Hm und nicke dazu.
»Es tut mir leid, dass ich dich vorhin angeschrien habe«, sagt sie. »Ich wollte nur, dass du weitergehst. Ich wollte nicht, dass du aufgibst.«
»Ich weiß.«
Wir lehnen uns gegen einen Baum, mit dem Rücken zur Straße. Auf der anderen Seite des Flusses ist Wald, dahinter steigt das Gelände an, und über uns ist nur noch der Himmel, der immer heller und blauer und größer und leerer wird, bis sogar die Sterne verschwinden.
»Als wir das Schiff verließen«, sagt Viola und wir blicken gemeinsam über den Fluss, »war ich niedergeschlagen, weil ich meine Freunde zurücklassen musste. Es waren nur wenige, die Kinder anderer Betreuer-Familien, aber trotzdem. Ich dachte, ich würde in den nächsten sieben Monaten niemanden treffen, der so alt ist wie ich.«
Ich trinke einen Schluck Wasser. »Daheim in Prentisstown hatte ich gar keine Freunde.«
Sie schaut mich neugierig an. »Wie meinst du das? Du musst doch Freunde gehabt haben.«
»Eine Zeit lang hatte ich welche. Jungen, die ein paar Monate älter waren als ich. Aber sobald Männer aus ihnen werden, reden sie nicht mehr mit Jüngeren.« Achselzuckend füge ich hinzu: »Ich war der letzte Junge. Zuletzt waren nur noch ich und Manchee da.«
Sie starrt hinauf zu den Sternen, die langsam verblassen. »Das ist eine dumme Sitte.«
»Das ist es wirklich.«
Dann schweigen wir, Viola und ich, wir sitzen am Ufer, ruhen uns aus, während ein neuer Morgen anbricht.
Nur sie und ich.
Nach einer Weile recken wir uns, bereit weiterzugehen. »Morgen könnten wir in Haven sein«, sage ich. »Wenn wir keine Zeit verlieren.«
»Morgen«, sagt Viola und nickt. »Ich hoffe, wir finden dort etwas zu essen.«
Sie ist an der Reihe, die Tasche zu tragen, also gebe ich sie ihr schweigend.
Die Sonne geht gerade über dem Tal auf, und es sieht so aus, als würde der Fluss geradewegs in sie hineinfließen.
Als das Sonnenlicht die Hügel vor uns streift, fällt mir etwas auf.
Viola hört das Knistern in meinem Lärm und dreht sich zu mir um. »Was ist?«
Schützend halte ich die Hand vor die Augen. Vom Kamm der fernen Berge steigt eine dünne Staubfahne auf.
Und sie bewegt sich.
»Was ist das?«, frage ich.
Viola kramt das Fernglas hervor. »Ich kann’s nicht richtig erkennen«, sagt sie. »Bäume verdecken die Sicht.«
»Ein Reisender?«
»Vielleicht ist da die andere Straße. Die von der Gabelung abzweigt und die wir nicht genommen haben.«
Wir beobachten ein, zwei Minuten lang, wie der Staub aufsteigt und langsam, wie eine hohe Quellwolke, in Richtung Haven wandert. Es ist unheimlich, wie lautlos er dahinzieht.
»Ich wünschte, ich wüsste, wo die Armee gerade ist«, sage ich. »Wie weit sie noch hinter uns sind.«
»Vielleicht war die Gegenwehr in Carbonel Downs heftiger als erwartet.«
Viola späht mit dem Fernglas flussaufwärts, um den Weg abzusuchen, auf dem wir gekommen sind, aber sie sieht nur Bäume.
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