Die Flucht
sie werden noch immer nicht wütend.
Ben dämpft seine Stimme, und ich sehe, wie er versucht, seinen Lärm unter Kontrolle zu bringen: »Es ist sehr, sehrwichtig, dass du das, was da draußen im Sumpf passiert ist, so gut wie möglich in deinem Lärm versteckst.«
»Warum denn? Kommen die Spackle zurück, um uns zu töten?«
»Denk nicht daran!«, herrscht mich Cillian an. »Begrab diese Gedanken, behalte sie ganz tief und lautlos in dir, bis du so weit von der Stadt weg bist, dass dich niemand mehr hören kann. Und jetzt komm!«
Er macht sich auf den Weg zurück zum Haus, er rennt sogar, tatsächlich, Cillian rennt.
»Komm schon, Todd!«, drängt Ben.
»Nicht ehe mir jemand erklärt, was hier vor sich geht.«
»Du wirst deine Erklärung bekommen«, versichert er, packt mich am Arm und zieht mich mit sich fort. »Du wirst mehr erfahren, als du jemals wissen wolltest.« Als er das sagt, liegt so viel Trauer in seinen Worten, dass ich verstumme, ihm nur hinterherrenne, während Manchee sich mal wieder die Seele aus dem Leib bellt.
Als wir endlich beim Haus sind, stelle ich mir vor, dass ...
Ich weiß nicht, was ich mir vorstelle. Eine Armee von Spackle, die aus dem Wald kommt, eine Abordnung von Bürgermeister Prentiss’ Leuten, in Reih und Glied und schussbereit, das Haus in Flammen, keine Ahnung. Aus dem Lärm von Ben und Cillian werde ich nicht recht schlau, meine eigenen Gedanken werden herausgeschleudert wie das Magma aus einem Vulkan, und Manchee hört nicht auf zu bellen, also wer soll sich in einem solchen Lärm auskennen?
Niemand ist da. Das Haus, unser Haus, ist wie immer, ein ruhiges Farmhaus. Cillian stürmt durch die Hintertür, geht in den Gebetsraum, den wir niemals benützen, und fängt an,Dielen aus dem Boden zu reißen. Ben rennt in die Vorratskammer und wirft getrocknete Lebensmittel in einen Leinensack, dann geht er zur Toilette, holt ein kleines Erste-Hilfe-Päckchen und wirft es ebenfalls in den Sack.
Ich stehe herum wie ein Idiot und frage mich, was in drei Teufels Namen hier vorgeht.
Ich weiß, was du jetzt denkst: Wie kann man so etwas nicht wissen, wenn man tagein, tagaus jeden einzelnen Gedanken der beiden Männer hört? Aber so ist es eben. Lärm ist einfach Lärm. Da ist Krach und Geklapper, und für gewöhnlich fügt er sich zu einem einzigen, großen Brei aus Lärm und Gedanken und Bildern, und die Hälfte der Zeit ist es völlig unmöglich, aus alledem schlau zu werden. In den Gehirnen der Männer geht es schlampig zu, und Lärm ist wie das lebendige, atmende Antlitz dieses schrecklichen Durcheinanders. Lärm ist das, was wahr ist, und das, was man glaubt und was man sich nur einbildet und was man nur vor sich hin fantasiert. Der Lärm sagt etwas, und im selben Moment sagt er das Gegenteil, und obwohl man sicher sein kann, dass die Wahrheit irgendwo darin verborgen ist, wie soll man wissen, was wahr ist und was nicht, wenn doch immer alles zur selben Zeit auf einen einstürzt.
Lärm ist ein Mensch ohne Filter und ein solcher Mensch ist das Chaos auf zwei Beinen.
»Ich werde nicht gehen«, sage ich entschlossen, während Ben und Cillian mit den Vorbereitungen für meine Flucht fortfahren. Sie achten überhaupt nicht auf mich. »Ich werde nicht gehen«, wiederhole ich.
Ben läuft an mir vorbei in den Gebetsraum und hilft Cillian dabei, die Dielenbretter aufzustemmen. Sie finden, wonachsie gesucht haben; Cillian zieht einen Rucksack hervor, einen alten Rucksack, von dem ich glaubte, ich hätte ihn längst verloren. Ben macht ihn auf und wirft einen schnellen Blick hinein. Ich sehe einige Kleidungsstücke, die mir gehören, und etwas, was aussieht wie ...
»Ist das ein Buch?«, frage ich. »Schon vor Jahren hättest du alle Bücher verbrennen müssen.«
Aber sie beachten mich nicht, die Luft scheint stillzustehen, als Ben das Buch aus dem Rucksack nimmt. Er und Cillian betrachten es, und mir fällt auf, dass es kein Buch im eigentlichen Sinne ist, mehr so etwas wie ein Tagebuch mit einem hübschen Ledereinband, und als Ben das Buch durchblättert, sehe ich, dass die Seiten cremefarben und bis zum Rand von Hand beschrieben sind.
Beide schauen mich an.
»Ich werde nirgendwohin gehen«, sage ich.
Im selben Moment klopft es an der Vordertür.
Einen Augenblick lang sagt niemand ein Wort, jeder ist wie erstarrt. Manchee will so viele Dinge auf einmal bellen, dass er sich eine Minute lang für gar nichts entscheiden kann, dann bellt er schließlich: »Tür !«, aber Cillian
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