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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Waldes erreicht haben, redet Ben wieder. »In deinem Rucksack ist Proviant, er wird eine Weile reichen, aber du solltest mit deinen Vorräten so sparsamwie möglich umgehen. Iss alle Früchte, die du findest, und alles, was du jagen kannst.«
    »Wie lange muss der Proviant denn reichen?«, frage ich. »Wie lange wird es dauern, bis ich zurückkommen kann?«
    Ben bleibt stehen. Wir sind gerade bei den Bäumen angelangt, die uns Schutz bieten. Bis zum Fluss sind es noch dreißig Meter, aber man hört ihn bereits, denn genau hier ergießt er sich talabwärts in die Sümpfe.
    Ich habe das Gefühl, als sei dies der verlassenste Ort auf der ganzen, weiten Welt.
    »Du wirst nicht zurückkommen, Todd«, sagt Ben ruhig und gefasst. »Nie mehr.«
    »Weshalb nicht?« Meine Stimme klingt schwach wie die einer jungen Katze, aber ich kann nichts dagegen machen. »Was habe ich denn getan, Ben?«
    Ben stellt sich vor mich hin. »Du hast gar nichts getan, Todd. Überhaupt nichts.« Er drückt mich ganz fest, und ich spüre, wie sich auch meine Brust ganz fest an seine presst, ich bin verwirrt, und in mir sind Angst und Wut zugleich. An diesem Morgen, als ich aufstand, war die Welt wie an jedem anderen Tag, und nun bin ich hier, werde weggeschickt, und Ben und Cillian tun so, als würde ich jeden Moment sterben, und das ist nicht in Ordnung, ich weiß nicht, weshalb, aber das ist einfach nicht in Ordnung.
    »Ich weiß, dass es nicht in Ordnung ist«, sagt Ben und reißt sich von mir los. »Aber es gibt einen Grund dafür.« Er dreht mich um, öffnet meinen Rucksack, und ich spüre, wie er etwas herausnimmt.
    Das Buch.
    Ich schaue ihn an und gleich wieder weg. »Du weißt, dassich nicht besonders gut lesen kann, Ben«, sage ich verlegen und komme mir dumm vor.
    Er beugt sich zu mir, sodass unser beider Augen auf gleicher Höhe sind. Sein Lärm ist mir unangenehm, so nah ist er.
    »Ich weiß«, sagt er sanft. »Ich habe mir immer vorgenommen, endlich Zeit zu finden ...« Er hält mir das Buch hin. »Es gehörte deiner Mutter. Es ist ihr Tagebuch und beginnt an dem Tag, an dem du geboren wurdest, Todd. Und es endet an dem Tag, an dem sie starb.«
    Mein Lärm öffnet sich gierig.
    Meine Mutter. Ein Buch, das meine Mutter eigenhändig geschrieben hat.
    Ben streicht mit der Hand über den Einband. »Wir haben ihr versprochen, auf dich aufzupassen. Wir haben es versprochen, deshalb mussten wir jeden Gedanken daran aus unserem Gedächtnis verbannen, damit unser Lärm niemandem verriet, was wir vorhaben.«
    »Nicht einmal mir«, sage ich.
    »Wir mussten auch vor dir schweigen. Wenn auch nur ein kleines bisschen davon in deinen Lärm gelangt wäre und sich in der Stadt verbreitet hätte ...«
    Er spricht den Satz nicht zu Ende.
    »So wie die Stille, der ich heute Morgen im Sumpf begegnet bin«, sage ich. »Die hat sich in der Stadt herumgesprochen. Sie ist der Grund für dieses ganze Chaos.«
    »Nein, das kam völlig unerwartet.« Er blickt zum Himmel auf, wie um zu zeigen, wie unglaublich unerwartet das alles war. »Niemand hätte gedacht, dass so etwas passiert.«
    »Es ist gefährlich, Ben. Ich konnte es spüren.«
    Aber er hält mir nur das Buch hin.
    Ich schüttle den Kopf. »Ben ... «
    »Ich weiß, Todd«, sagt er. »Streng dich an, so gut du kannst.«
    »Nein, Ben ...«
    Er schaut mich an, weicht meinem Blick nicht aus. »Vertraust du mir, Todd Hewitt?«
    Ich kratze mich am Kopf. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. »Natürlich vertraue ich dir. Zumindest habe ich dir vertraut, ehe du damit angefangen hast, Taschen für mich zu packen, von denen ich nichts wusste.«
    Sein Lärm ist gebündelt und sticht wie ein Sonnenstrahl. »Vertraust du mir?«, fragt er wieder.
    Ich schaue ihn an und, ja, ich vertraue ihm, sogar jetzt. »Ich vertraue dir, Ben.«
    »Dann glaub mir auch, Todd, wenn ich dir sage, dass alles, was du zu wissen glaubst, nicht wahr ist.«
    »Was denn?«, frage ich und meine Stimme wird eine Spur lauter. »Warum sagst du mir nicht einfach die Wahrheit?« »Weil Wissen gefährlich ist«, antwortet er so ernst wie nie zuvor.
    Und als ich in seinem Lärm suchen will, was er vor mir verbirgt, brüllt der Lärm auf und ich pralle zurück.
    »Wenn ich es dir jetzt erzähle, würde es in deinen Gedanken lauter dröhnen als in einem Bienenstock bei der Honigernte, und Bürgermeister Prentiss und seine Leute würden dich im Handumdrehen finden«, stößt er hervor. »Du musst von hier verschwinden. Du musst weg von hier, und

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