Die Flucht
zwar so weit, wie du kannst.«
»Aber wohin denn?«, frage ich. »Es gibt doch keinen Ort, an den ich gehen könnte!«
Ben holt tief Luft. »Es gibt einen«, sagt er. »Es gibt ein Anderswo.«
Seine Worte verschlagen mir die Sprache.
»Im vorderen Umschlag des Buches findest du eine zusammengefaltete Karte«, fährt Ben fort. »Ich habe sie selbst gezeichnet, aber schau sie dir nicht an, nicht, solange du nicht ganz aus der Stadt heraus bist, okay? Geh in den Sumpf. Wenn du dort bist, wirst du schon wissen, was zu tun ist.«
Aber in seinem Lärm höre ich, dass er sich ganz und gar nicht sicher ist, ob ich das weiß. »Was werde ich dann dort finden?«
Er gibt mir keine Antwort, was mich ins Grübeln bringt.
»Wie konntest du wissen, was passieren würde, und mein Bündel packen?«, frage ich ihn. »Wenn dieses Ding im Sumpf wirklich so überraschend kam, warum bist du dann so erpicht darauf, mich noch heute in die Wildnis hinauszujagen?«
»Diesen Plan hatten wir schon, seit du ein kleiner Junge warst.« Ich sehe ihn schlucken, höre die Traurigkeit in seinen Worten. »Sobald du alt genug sein würdest, um es allein zu schaffen ...«
»Heißt das, ihr wolltet mich fortjagen, damit mich die Krokodile fressen?« Ich weiche einen Schritt zurück.
»Nein, Todd ...« Das Buch in der Hand, macht er wieder einen Schritt auf mich zu. Ich weiche erneut vor ihm zurück. Mit einer Handbewegung gibt er sich geschlagen.
Er schließt die Augen und lässt mich an seinem Lärm teilhaben.
In einem Monat ist das Erste, was ich höre ...
Es geht um meinen Geburtstag ...
Der Tag, an dem ich ein Mann werde ...
Und dann ...
Und dann ...
Und da sehe ich es, alles ist da ...
Ich sehe, was geschieht ...
Was die anderen Jungen getan haben, die Männer wurden ...
Ganz allein ...
Nur auf sich gestellt ...
Ich sehe, wie auch das letzte Fünkchen Kindheit abgetötet wird ...
Und ...
Und ...
Und was in Wirklichkeit mit den Leuten geschah, die ... Ach du meine Scheiße ...
Ich möchte nichts mehr davon hören.
Und ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie mir jetzt zumute ist.
Ich schaue Ben an, er ist jetzt ein völlig anderer, er ist nicht mehr der Ben, den ich kannte.
Wissen ist gefährlich.
»Deshalb sagt es dir keiner«, erklärt er mir. »Damit du nicht wegläufst.«
»Ihr hättet mich nicht davor beschützt?«, frage ich, wieder mit der mickerigen Stimme einer jungen Katze (halt bloß die Klappe).
»Aber genau das tun wir doch, Todd!«, sagt er. »Wir beschützen dich, indem wir dich wegbringen. Wir mussten aber erst sicher sein, dass du dich auf eigene Faust durchschlagen kannst, deshalb haben wir dir all diese Dinge beigebracht. Aber jetzt, Todd, musst du gehen ... «
»Wenn es das ist, was in einem Monat passiert, warum habt ihr dann so lange gewartet? Warum habt ihr mich nicht früher weggebracht?«
»Wir können nicht mit dir kommen. Das ist das Problem. Und wir haben es nicht übers Herz gebracht, dich ganz alleine wegzuschicken. Wir konnten nicht zusehen, wie du uns verlässt, nicht so jung, wie du warst.« Er streicht mit den Fingern über den Einband des Buchs. »Wir haben auf ein Wunder gehofft. Ein Wunder, das uns nicht gezwungen hätte ...«
Dich zu verlieren , sagt sein Lärm.
»Aber es ist kein Wunder geschehen«, sage ich nach einer Weile.
Er schüttelt den Kopf. Dann streckt er mir das Buch entgegen. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, aber es geht nicht anders.«
Da ist so viel Trauer in seinem Lärm, so viel Kummer und Sorge, dass ich weiß, er sagt die Wahrheit. Sosehr ich es auch hasse, er kann das, was passiert, nicht ändern, also nehme ich das Buch aus seinen Händen entgegen und stecke es wieder in den Rucksack.
Wir schweigen. Was sollte man in so einem Augenblick auch sagen? Alles und nichts. Und wenn man nicht alles aussprechen kann, sagt man besser nichts.
Er zieht mich zu sich heran, meine verletzte Lippe streift seinen Kragen so wie bei Cillian, aber diesmal lasse ich es zu. »Denk immer daran«, sagt er. »Als deine Ma starb, bist du unser Sohn geworden, und ich liebe dich, und Cillian liebt dich auch. Jetzt und für alle Zeit.«
Ich mache den Mund auf, um zu sagen: »Ich will nicht fort«, aber es kommt nichts heraus.
Weil es nämlich ganz laut »Bang!« macht in Prentisstown. Es hört sich an wie eine Riesenexplosion.
Und dieser Knall kann eigentlich nur von unserer Farm kommen.
Ben lässt mich unwillkürlich los. Er sagt kein Wort, aber sein Lärm schreit
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