Die Flucht
Blick fällt auf ihre Tasche am Boden.
Gerade strecke ich die Hand danach aus, als ich etwas höre. Es klingt wie ein Flüstern. Mein Lärm wird kurz unterbrochen, und ich blicke hoch, um zu sehen, ob sie nachkommt. Worüber ich erleichterter bin, als ich zugeben mag.
Aber sie ist es nicht. Da höre ich das Geräusch wieder. Ein Flüstern. Mehr als eines. Der Wind trägt es zu mir herüber.
»Todd?«, murmelt Manchee und streckt die Nase in die Luft.
Ich blinzle gegen das Sonnenlicht und lasse den Blick über den Sumpf schweifen. Ist da draußen jemand?
Ich wühle in der Tasche nach dem Fernglas. Sie ist voller Krimskrams, aber mich interessiert nur das Fernglas. Ich halte es hoch und schaue hindurch.
Ich erkenne nichts als Sumpf und Baumwipfel, dazwischen hin und wieder schlammige Rinnsale, die sich allmählich zu einem Fluss formen. Ich setzte das Fernglas wieder ab und betrachte es genauer. An mehreren Stellen sind kleine Knöpfe. Ich drücke einige davon und stelle fest, dass man sich damit den Bildausschnitt noch näher heranholen kann. Diesen Trick wiederhole ich mehrmals, denn inzwischen bin ich ganz sicher, dass ich ein Flüstern höre. Vollkommen sicher.
Ich nehme die aufgewühlte Erde, den Graben und das Wrack ins Visier, aber weiter kann ich nichts entdecken. Ich spähe über den Rand des Fernglases hinweg und frage mich, ob sich da unten nicht doch etwas bewegt hat. Dann blicke ich wieder durch das Glas, konzentriere mich aber auf eine Stelle in der Nähe, wo Bäume rascheln.
Aber das ist vielleicht nur der Wind.
Ich suche und suche, drücke Knöpfe, um das Bild näher ranzuholen und dann wieder wegzudrehen, doch immer wieder kehre ich zu der Stelle mit den raschelnden Bäumen zurück. Ich richte das Fernglas auf eine Art Senkloch zwischen mir und den Bäumen.
Ich richte es genau dorthin.
Ich schaue hindurch und mein Magen verkrampft sich, während ich überlege, ob ich wirklich ein Flüstern höre.
Ich schaue und schaue.
Bis das Rascheln die Senke erreicht und ich den Bürgermeister sehe, wie er hinter den Bäumen hervorreitet, gefolgt von weiteren Männern zu Pferd.
Sie reiten genau in unsere Richtung.
12
Die Brücke
Der Bürgermeister. Nicht nur sein Sohn, sondern der Bürgermeister höchstpersönlich. Mit seinem sauberen Hut und seinem sauberen Gesicht und seinen sauberen Kleidern und seinen sauberen Stiefeln und seiner kerzengeraden Haltung. Wir kriegen ihn nicht oft zu sehen in Prentisstown, jetzt nicht mehr, es sei denn, man gehört zu seinem verschworenen kleinen Zirkel. Doch bei den wenigen Gelegenheiten sieht er genauso aus wie jetzt durchs Fernglas. Nämlich so, als wolle er dir zeigen, wie sehr er auf sich achtet, du hingegen nicht.
Ich drücke wieder auf ein paar Knöpfe, bis ich so nah dran bin, wie’s nur geht.
Es sind insgesamt fünf, nein sechs, eben jene Männer, deren Lärm man hört, wenn sie ihre verrückten Zusammenkünfte im Haus des Bürgermeisters abhalten. ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH, so Zeug eben. Mr Collins, Mr MacInerny, Mr O’Hare und Mr Morgan. Sie sind alle zu Pferd – ein seltener Anblick, denn Pferde sind in New World schwer zu halten, der Bürgermeister lässt seine eigene Herde sogar von Männern mit Gewehren bewachen.
Auch der dämliche Prentiss junior darf nicht fehlen, an der Seite seines Vaters, er hat ein dickes Veilchen an der Stelle, wo Cillian ihm einen Schlag verpasst hat. Gut so.
Aber dann wird mir klar: Was auch immer auf der Farm passiert ist, es lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Was auch immer Ben und Cillian zugestoßen ist. Ich lege das Fernglas weg und muss ganz fest schlucken.
Dann nehme ich es wieder hoch und schaue hindurch. Die Männer haben einen Augenblick angehalten, um sich zu beraten, sie beugen sich über eine große Landkarte, die bestimmt viel besser ist als meine.
Oh Mann.
Das kann doch nur ein Witz sein.
Aaron.
Hinter ihnen taucht Aaron auf.
Der stinkende, dämliche, verpisste Aaron.
Sein Kopf ist fast völlig von einer Bandage verdeckt, aber er stapft zu Fuß hinter dem Bürgermeister her und fuchtelt mit den Händen. Er predigt, selbst wenn keiner ihm zuhört.
Wie ist das möglich? Wie hat er überlebt? Krepiert dieser Mann denn nie?
Es ist meine Schuld. Meine verfluchte Schuld. Weil ich ein Schlappschwanz bin. Ich bin schwach und ein Feigling. Nur aus diesem Grund ist Aaron noch am Leben und führt den Bürgermeister durch den Sumpf. Weil ich ihn nicht umgebracht habe, ist er nun
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