Die Flucht
gar nicht.
Ich überlege weiter, gewähre ihr Zugang zu meinem Lärm, so frei und ungehindert wie möglich. »Vielleicht haben wir ja alle diesen Erreger abbekommen und und und ja!« Ein neuer Gedanke streift mich und diesmal ist es ein guter. »Vielleicht haben wir uns absichtlich abgeschottet, damit andere Siedler sich nicht anstecken! So muss es gewesen sein! Wenn du also im Sumpf bleibst, bist du in Sicherheit.«
Sie wiegt sich nicht mehr ganz so heftig und sieht mich weiter an. Ob sie mir glaubt?
Aber dann, wie der allerletzte Blödmann, der nicht weiß, wann er’s besser sein lässt, denke ich den Gedanken weiter. Denn wenn es stimmt, dass Prentisstown abgeriegelt wurde, werden die Bewohner der anderen Siedlung nicht gerade erfreut darüber sein, wenn ich einfach so bei ihnen hereinspaziere, oder? Vielleicht haben sie selbst ja Prentisstown abgeriegelt, weil man sich dort anstecken konnte.
Und wenn Lärm tatsächlich ansteckend ist, dann kann das Mädchen sich ja bei mir infizieren, oder?
»Oh Mann«, seufze ich und stütze die Hände auf die Knie. Mein Körper fühlt sich an, als würde ich abstürzen, obwohl ich auf festem Boden stehe. »Oh Mann.«
Das Mädchen schlingt wieder die Arme um sich und alles ist schlimmer als zuvor.
Das ist nicht fair. Ich sag dir was, das ist kein bisschen fair. Wenn du im Sumpf bist, wirst du wissen, was zu tun ist, Todd. Du wirst es wissen . Ja, vielen Dank auch, Ben, danke für deine Hilfe und Fürsorge, aber jetzt bin ich hier und habe nicht den leisesten Schimmer, was zu tun ist. Es ist einfach nicht fair. Ich bin von zu Hause vertrieben worden, man hat mich zusammengeschlagen, die Leute, die behaupten, es liege ihnen etwas an mir, haben mich jahrelang belogen, ich muss nur mithilfe einer dämlichen Landkarte eine Siedlung finden, von deren Existenz ich bis vor Kurzem noch gar nichts wusste, ich muss rausfinden, was in einem dämlichen Buch ...
Das Buch.
Ich streife den Rucksack ab und hole das Notizbuch hervor. Ben hat gesagt, ich würde darin alle Antworten finden, und womöglich stimmt das ja. Es ist nur so, dass ...
Mit einem Seufzer schlage ich das Notizbuch auf. Es ist vollgeschrieben, lauter Wörter, in der Handschrift meiner Mutter, Seiten über Seiten über Seiten, und ich ...
Ach, was soll’s. Ich widme mich erneut der Landkarte, schaue mir an, was Ben auf die andere Seite geschrieben hat. Zum ersten Mal betrachte ich sie nicht im Schein der Taschenlampe, deren Licht eignet sich ohnehin nicht besonders zum Lesen. Bens Worte stehen ganz oben auf der Seite. »Gehe« ist das erste Wort, es ist eindeutig das erste Wort, und dann stehen da noch ein paar längere Wörter, die ich so schnell nichtrauskriege, dann folgen einige längere Absätze, für die ich erst recht keine Zeit habe, aber am unteren Rand hat Ben ein paar Wörter dick unterstrichen.
Ich sehe das Mädchen an, das sich wiegt. Ich drehe ihm den Rücken zu und lege den Finger unter das erste unterstrichene Wort.
Mal sehn. »D...?« »Du«, es muss »du« heißen. Du. Okay, und was ist mit mir? »M... Mu? Murr. Murrt. Du murrt?« Was zum Teufel soll das heißen? »Si. Si...e.« Vielleicht »siehe«? »Wan... Wan...nen? Du murrt siehe wannen«? Nein, Moment mal.
»Sie«. Es heißt einfach »sie«. Klar heißt es das, du Idiot.
Habe ich schon erwähnt, dass Ben mir das Lesen beigebracht hat? Und dass ich mich nicht besonders geschickt dabei angestellt habe? Hier ist also der Beweis.
Ach, was soll’s.
»Du murrt sie wannen.«
Idiot.
Ich nehme das Buch und blättre die vielen Seiten um. Es gibt Dutzende davon, Dutzende und Aberdutzende, gefüllt mit Wörtern, die mir alle nichts sagen, die alle keine Antworten geben.
So ein blödes, beknacktes Buch.
Ich stecke die Karte in das Notizbuch zurück, schlage den Deckel zu und werfe es auf den Boden.
Du Idiot.
»So ein blödes, beknacktes Buch«, sage ich diesmal laut und befördere es mit einem Tritt mitten in die Farne. Ich drehe mich zu ihr um, sie wiegt sich immer noch, vor und zurück, vor und zurück und ja, schon gut, ich weiß es, ich weiß es, aberes geht mir trotzdem langsam auf die Nerven. Wenn das hier eine Sackgasse ist, dann weiß ich nämlich auch nicht weiter, und sie offensichtlich ebenso wenig.
Mein Lärm fängt an zu knistern.
»Ich hab mich nicht um das alles hier gerissen, hörst du?«, sage ich. Sie schaut nicht einmal hoch. »Hey! Ich rede mit dir!«
Nichts. Nichts, nichts, nichts.
»Ich weiß nicht weiter!«,
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