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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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mir um. Zweifellos hat sie meine Idee schon in meinem Lärm gelesen und wartet darauf, dass ich sie in die Tat umsetze.
    Das Messer liegt immer noch in meiner Hand. Es ist Macht in meinen Fingern.
    Vielleicht kann ich damit wenigstens einmal etwas Vernünftiges tun.
    Ich inspiziere die an den Holzpfählen verknoteten Seile. Das Messer hat eine Furcht einflößend gezackte Klinge, dieich jetzt an einen Knoten ansetze. Dann fange ich an mit dem Messer zu säbeln.
    Ich schneide und schneide.
    Die Hufschläge werden lauter, ihr Echo hallt in der Schlucht wider.
    Wenn die Brücke auf einmal weg wäre ...
    Ich schneide weiter.
    Und weiter.
    Und weiter.
    Und ich komme so gut wie gar nicht voran.
    »Was zum Teufel ist da los?« Ungläubig starre ich auf die Schnittstelle. Man sieht kaum mehr als einen Kratzer. Ich fahre mit dem Finger über die gezackte Klinge. Er fängt sofort an zu bluten. Ich schaue mir das Seil genauer an. Sieht aus, als wäre es in eine Art Harz getaucht worden.
    Irgendein blödes, eisenhartes Harz, das man nicht schneiden kann.
    »Das gibt’s doch nicht!«, sage ich zu dem Mädchen gewandt.
    Sie setzt das Fernglas an und blickt in die Richtung, aus der wir gekommen sind.
    »Siehst du sie?«
    Ich schaue ebenfalls hinunter zum Fluss. Ein Fernglas ist gar nicht nötig, ich sehe sie mit bloßen Augen. Kleine Punkte, die immer größer werden, aber leider nicht langsamer, hufedonnernd, als gäbe es kein Morgen mehr.
    Wir haben drei Minuten. Vielleicht vier.
    So ein Mist.
    Ich säble weiter, so schnell und fest ich kann, zwinge meinen Arm vor und zurück, vor und zurück. Der Schweiß brichtaus allen Poren und neue Schmerzen gesellen sich zu den alten. Ich schneide und schneide und schneide, bis das Wasser von der Nase auf die Klinge tropft.
    »Komm schon, komm schon«, knurre ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    Ein Blick auf die bearbeitete Stelle sagt mir, dass ich nur ein winziges Bröckchen Harz durchstoßen habe an einem winzig kleinen Knoten an einer riesengroßen Brücke.
    »Verdammt!«
    Ich säge weiter und weiter und weiter. Und immer noch weiter und weiter. Der Schweiß rinnt mir in die Augen und brennt fürchterlich.
    »Todd!«, bellt Manchee. Seine Warnung ist weithin zu hören.
    Ich schneide und schneide.
    Da verkantet sich das Messer und ich schürfe mir die Fingerknöchel am Holzpfahl auf, dass sie bluten.
    »VERDAMMT!« Ich schleudre das Messer beiseite. Es schlittert über den Boden und bleibt vor den Füßen des Mädchens liegen. »VERDAMMT NOCH MAL!«
    Das war’s dann wohl, oder?
    Das ist das Ende.
    Unsere einzige bescheuerte Chance, die in Wahrheit gar keine war.
    Wir können den Berittenen nicht entkommen, und wir können auch nicht die Seile dieser vermaledeiten Brücke kappen, deshalb werden sie uns schnappen, und Ben und Cillian sind tot, und wir werden auch sterben, und das ist das Ende der Welt und fertig.
    Mein Lärm färbt sich so rot wie niemals zuvor, unvermitteltund rau; er ist ein glühendes Brandzeichen in meinem Fleisch, ein grelles Rot für all das, was mich geschmerzt hat und immer noch schmerzt, ein gellender Zornesschrei gegen all die Ungerechtigkeit und die Lügen.
    Und das alles hat einen gemeinsamen Ursprung ganz in meiner Nähe.
    Ich starre das Mädchen so wild an, dass es erschrocken einen Schritt zurück tritt.
    »Du«, sage ich, denn nichts und niemand wird mich jetzt aufhalten. »Das ist alles nur wegen dir! Wenn du nicht in diesem blöden Sumpf aufgetaucht wärst, wäre all das nicht passiert. Ich wäre jetzt in diesem Moment zu Hause. Ich würde mich um meine bescheuerten Schafe kümmern und in meinem bescheuerten Haus wohnen und in meinem eigenen bescheuerten Bett schlafen!«
    Außer dass ich nicht »bescheuert« sage.
    »Aber nein!«, schreie ich lauter. »Da bist du! Da bist du und deine Stille! Und schon geht die ganze Welt zum Teufel!«
    Ich merke gar nicht, wie ich auf sie zugehe, bis sie zurückweicht und mich stumm ansieht.
    Aber natürlich höre ich keinen Laut von ihr.
    »Du bist nichts!«, brülle ich also. »Nichts! Du bist nichts als Leere! In dir ist nichts! Du bist leer und ein Nichts und aus diesem Grund werden wir sterben. Für nichts und wieder nichts!«
    Ich habe die Fäuste so fest geballt, dass die Nägel in meine Handflächen schneiden. Ich bin zornig, mein Lärm wütet so laut, so rot, dass ich die Fäuste ballen muss, um sie zu schlagen, sie zu prügeln, um ihre widerliche Stille zu ersticken, ehe sie mich verschlingt und die ganze

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