Die Flucht
da, um mich umzubringen.
Mir ist schlecht. Ich presse die Hand gegen den Magen und kann dabei ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Mein Blut rauscht, und ich merke, wie Manchee sich von mir wegduckt.
»Es ist meine Schuld, Manchee«, sage ich. »Ganz allein meine.«
»Deine Schuld«, wiederholt er verwundert und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Ich zwinge mich dazu, wieder durchs Fernglas zu schauen, und sehe gerade noch, wie der Bürgermeister Aaron zu sich ruft. Seit die Menschen die Gedanken der Tiere hören können, ist Aaron davon überzeugt, dass Tiere unrein sind, und meidet sie deshalb. Also muss der Bürgermeister ihn erst noch überreden, aber schließlich wagt Aaron sich näher heran, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Er hört angestrengt zu, während der Bürgermeister ihm Fragen stellt.
Und dann hebt er den Kopf.
Blickt über die Sumpfbäume hinweg in den Himmel. Blickt herauf zu dieser Anhöhe.
Blickt direkt in meine Augen.
Er kann mich unmöglich sehen. Niemals. Nicht ohne ein Fernglas wie dieses hier. Ich habe bei keinem der Männer eines gesehen, ich habe überhaupt noch nie eines in Prentisstown gesehen. Nein, es ist vollkommen ausgeschlossen. Er kann mich nicht sehen.
Aber die große, erbarmungslose Kreatur hebt den Arm und deutet. Deutet direkt auf mich, so als säße ich am Tisch gegenüber.
Ohne lange nachzudenken, renne ich los, den Hügel hinunter, zurück zu dem Mädchen, ich renne, so schnell ich kann, und im Laufen ziehe ich mein Messer aus der Scheide. Dicht hinter mir Manchee, der bellt und bellt.
Sie sitzt immer noch auf dem Felsen, aber zumindest blickt sie auf, als sie mich bemerkt.
»Komm!«, sage ich und packe sie am Arm. »Wir müssen weg!«
Sie will meine Hand abschütteln, aber ich lasse nicht los. »Nein!«, schreie ich sie an. »Wir müssen weg! Sofort!«
Sie fängt an, mich mit Fäusten zu traktieren, und trifft mich ein paarmal im Gesicht.
Aber ich lasse und lasse nicht los.
»Hör zu!«, schreie ich und erlaube ihr, meinen Lärm zu hören. Sie schlägt mich noch ein weiteres Mal, aber dann schaut sie, schaut und lauscht auf meinen Lärm, sieht, was uns im Sumpf erwartet.
Falsch, denn es wartet nicht auf uns, es unternimmt vielmehr alles, um uns einzuholen. Aaron, der einfach nicht sterben will und nur den einen Gedanken hat, uns ausfindig zu machen. Aaron, der diesmal berittene Männer bei sich hat, die viel schneller sind als wir.
Ihr Gesicht ist verzerrt, so als litte sie schlimme Schmerzen, sie macht den Mund auf, will schreien, aber es kommt nichts. Noch immer nichts. Noch immer kein Lärm, kein Geräusch, kein gar nichts.
Ich kapier das einfach nicht.
»Ich weiß nicht, was vor uns liegt«, sage ich. »Ich weiß überhaupt nichts. Aber was immer es auch ist, es ist allemal besser als das, was uns verfolgt. Es kann gar nicht anders sein.«
Bei diesen Worten verändert sich ihr Gesicht. Es wird so ausdruckslos wie schon zuvor und sie presst die Lippen fest zusammen.
»Weg! Weg! Weg!«, bellt Manchee.
Sie streckt die Hand nach ihrer Tasche aus. Ich reiche sie ihr. Sie steht auf, verstaut das Fernglas, schultert die Tasche und sieht mich an.
»Dann los«, sage ich.
Und so kommt es, dass ich zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen wie ein Bekloppter auf einen Fluss zurenne, undwieder ist mir Manchee dicht auf den Fersen, aber diesmal auch noch sie.
Na ja, eigentlich rennt sie eher vor mir her, sie ist verflucht schnell, keine Frage.
Es geht den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter und allmählich verschwindet der Sumpf und macht einem richtigen Wald Platz. Der Boden wird fester, man kann besser darauf laufen, und überhaupt geht es viel häufiger abwärts als aufwärts, wenigstens in dieser Hinsicht haben wir Glück. Ab und zu erhaschen wir einen Blick auf den Fluss links vor uns. Mein Rucksack klatscht mir bei jedem Schritt gegen den Rücken und ich kriege kaum noch Luft.
Aber ich habe das Messer in der Hand.
Ich schwöre. Ich schwöre es hier und jetzt vor Gott oder vor wem auch immer. Falls ich Aaron je wieder zu fassen kriege, bringe ich ihn um. Dann gibt’s kein Zögern und Zaudern. Nein, diesmal nicht. Ich schwöre es.
Ich werde ihn töten.
Ich werde ihn verflucht noch mal töten.
Du wirst schon sehen.
Jetzt wird es steiler, die Bäume werden lichter trotz des dichten Blätterwerks, und mal ist der Fluss näher, mal weiter entfernt. Manchee lässt hechelnd die Zunge aus dem Maul hängen, sie hüpft bei
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