Die Flucht
ja, dort gibt es viel zu tun«, sagt Hildy. Sie steht auf und nimmt ihren Teller. »Wenn ihr Arbeit sucht, in den Obstgärten wird immer jemand gebraucht, der mit anpackt.«
Auch Tam steht auf. Gemeinsam decken sie den Tisch ab, tragen das Geschirr in die Küche und lassen Viola und mich alleine zurück. Wir hören, wie sie sich in der Küche unterhalten, laut genug, um den Lärm zu übertönen, und leise genug, dass wir nichts mitkriegen.
»Meinst du wirklich, wir sollten die Nacht über hierbleiben?«, frage ich gedämpft.
Als hätte ich kein Wort gesagt, faucht Viola mich an. »Nur weil meine Gedanken und Gefühle nicht wie ein endloser Schrei die Welt überschwemmen, heißt das nicht, dass ich keine habe.«
Ich wende mich ihr verdutzt zu. »Hey?«
Sie bringt es fertig, leise und zornig zugleich zu sein. »Jedes Mal, wenn du denkst: ›Ach, in ihr nichts als Leere.‹ Oder: ›Sie denkt und fühlt ja gar nichts.‹ Oder: ›Ich kann sie bei Tam undHildy zurücklassen‹, dann höre ich das, kapiert? Ich höre jeden Mist, den du denkst. Und ich verstehe viel mehr, als mir lieb ist.«
»Ach ja?«, flüstere ich, obwohl mein Lärm alles andere als ein Flüstern ist. »Jedes Mal, wenn du etwas denkst oder fühlst oder wenn du einen verrückten Einfall hast, dann höre ich das nicht, also wie soll ich, verdammt noch mal, etwas von dir wissen? Wie soll ich wissen, was los ist, wenn du es vor mir verbirgst?«
»Tu ich ja gar nicht«, zischt sie wütend. »Ich bin vollkommen normal.«
»Hier bist du nicht normal, Vi.«
»Woher willst du das wissen? Glaubst du, ich merke nicht, dass so gut wie alles, was die beiden sagen, neu für dich ist? Warst du nicht auf einer Schule? Hast du denn überhaupt nichts gelernt?«
»Geschichtskenntnisse sind nicht so wichtig, wenn’s ums Überleben geht«, presse ich zwischen den Zähnen hervor.
»Genau dann sind sie am wichtigsten«, widerspricht Hildy, die plötzlich am Kopfende des Tisches steht. »Und falls dieser alberne Streit zwischen euch beiden noch nicht Beweis genug dafür ist, wie müde ihr seid, dann seid ihr sogar zu müde, um eure fünf Sinne beisammenzuhaben. Kommt mit.«
»Todd!«, bellt Manchee aus seiner Ecke hervor, macht sich aber weiter über den Hammelknochen her, den Tam ihm gegeben hat.
»Unsere Gästezimmer werden schon seit Langem für andere Zwecke genutzt«, erklärt Hildy. »Ihr müsst mit den Schlafbänken vorliebnehmen.«
Wir helfen ihr schweigend dabei, Laken und Betttücherzurechtzumachen, Viola noch immer mürrisch, ich mit flirrend rotem Lärm.
»Und jetzt«, sagt Hildy, als wir fertig sind, »entschuldigt ihr euch jeder bei dem anderen.«
»Was ?«, fragt Viola. »Warum?«
»Das ist eine Sache, die nur uns beide angeht«, sage ich abweisend.
»Geht niemals zerstritten zu Bett«, sagt Hildy. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und macht ganz den Eindruck, als würde sie keinen Schritt zurückweichen, ja, als warte sie geradezu auf Widerspruch. »Nicht, wenn ihr Freunde bleiben wollt.«
Viola und ich sagen nichts.
»Er hat dein Leben gerettet?«, fragt Hildy Viola.
Viola schaut auf den Boden, schließlich sagt sie: »Ja.« »Stimmt, genauso war es«, erkläre ich.
»Und sie hat bei der Brücke dein Leben gerettet, nicht wahr?«, fährt Hildy fort.
Oh.
»Ja«, sagt Hildy, »Oh. Und das ist doch etwas wert, meint ihr nicht auch?«
Wir schweigen.
Hildy seufzt. »Na schön. Zwei Frischlinge sollten selbst entscheiden, in welcher Form sie sich entschuldigen, schätze ich.« Sie geht hinaus, ohne auch nur Gute Nacht zu sagen.
Ich kehre Viola den Rücken zu, sie kehrt mir den Rücken zu. Ich ziehe die Schuhe aus und krieche unter eine Decke auf Hildys Schlafbank, was nur eine ulkige Umschreibung für »Sofa« ist. Viola legt sich ebenfalls hin. Manchee springt zu mir herauf und rollt sich zu meinen Füßen zusammen.
Außer meinem Lärm und dem Knistern eines Feuers, für das es viel zu warm ist, ist nichts zu hören. Die Sonne kann gerade mal untergegangen sein, aber die weichen Kissen und die weiche Decke und das Zuviel an Wärme machen, dass mir ganz schnell die Augen zufallen.
»Todd?«, ruft Viola von ihrem Sofa auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.
Ich schrecke aus dem Halbschlaf hoch. »Was ist?«
Einen Moment lang sagt sie gar nichts und ich vermute, sie denkt über eine Entschuldigung nach.
Aber nein.
»Steht in deinem Buch auch, was du machen sollst, wenn du in Farbranch bist?«
Mein Lärm glüht noch
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