Die Flucht
»Viola ist schon im Haus und verzehrt vermutlich gerade deine Portion gleich mit.«
»Hungrig, Todd!«, bellt Manchee.
»Für dich ist auch was da, Hundefrischling«, sagt Hildy und beugt sich zu ihm herab, um ihn zu streicheln. Worauf er sich sofort vor ihr auf den Rücken wirft. Dieser Hund hat kein bisschen Würde.
»Worum geht es wirklich bei dieser Versammlung?«, frage ich.
»Oh, um die Siedler, die bald kommen werden. Das ist eine riesengroße Neuigkeit.« Sie hat sich über Manchee gebeugt, aber jetzt schaut sie zu mir hoch. »Und natürlich auch, damit die anderen über euch Bescheid wissen. Damit sie sich mit dem Gedanken anfreunden, euch willkommen zu heißen.«
»Und werden sie uns willkommen heißen?«
»Die Leute haben Angst vor dem Fremden, Todd, mein Junge«, sagt sie und steht auf. »Wenn sie euch erst einmal kennengelernt haben, wird es keine Schwierigkeiten geben.«
»Heißt das, wir können bleiben?«
»Ich nehme es an«, sagt sie. »Wenn du möchtest.« Ich gebe ihr keine Antwort.
»Geh jetzt«, sagt sie. »Ich komme und hole euch, wenn es so weit ist.«
Ich nicke stumm. Sie winkt kurz und geht zur Scheune hinaus, in der es immer dunkler wird. Ich hänge den Besen weg. Meine Schritte hallen auf dem Boden. Ich höre den Lärm der Männer und die Stille der Frauen, während sich die Dorfbewohner im Versammlungssaal einfinden. Das Wort Prentisstown sickert heraus und mein Name und auch der von Viola und Hildy.
Obwohl Angst aus den Köpfen herauszulesen ist und Misstrauen, spüre ich doch nirgends tiefe Ablehnung. Es gibt nur viele Fragen und wenig Zorn.
Und das ist, na ja, vielleicht doch ganz gut.
»Komm, Manchee«, sage ich. »Lass uns was essen.«
»Essen, Todd«, bellt er begeistert und weicht mir nicht von der Seite.
»Wie Violas Tag wohl gewesen ist?«, überlege ich.
Gerade als ich zum Tor gehen will, fällt mir auf, wie sich eine einzelne Lärmquelle aus dem allgemeinen Gemurmel löst.
Eine einzelne Lärmwelle, die vom Gedankenstrom abzweigt und sich in Richtung Scheune bewegt.
Bis er sich direkt davor befindet.
Ich bleibe stehen, in der tiefen Dunkelheit der Scheune. Ein Schatten erscheint am Tor.
Matthew Lyle.
Und sein Lärm sagt: Du gehst nirgendwohin, Junge .
19
Und wieder lässt mir das Messer die Wahl
»Zurück! Zurück! Zurück!«, bellt Manchee aufgeregt.
Das fahle Licht der Monde lässt Matthews Buschmesser aufblitzen.
Ich greife nach hinten. Das Messer in der Scheide habe ich beim Arbeiten unters Hemd geschoben. Ich ziehe es heraus und halte es mit leicht gesenktem Arm fest in der Hand.
»Diesmal ist kein altes Mütterchen da, das dich beschützt«, sagte Matthew und schwingt die Machete vor und zurück, so als wolle er die Luft in Streifen schneiden. »Kein Rock, hinter dem du dich verstecken kannst, damit niemand sieht, was du getan hast.«
»Ich habe nichts getan.« Ich weiche einen Schritt zurück und versuche angestrengt, meinen Lärm zu beherrschen, um den rettenden Gedanken an die hintere Scheunentür nicht zu verraten.
»Das spielt keine Rolle«, sagt Matthew und macht jedes Mal einen Schritt vorwärts, sobald ich einen zurück mache. »Wir haben hier ein Gesetz.«
»Ich habe mit dir nichts zu schaffen«, sage ich.
»Aber ich mit dir, Junge«, erwidert er und sein Lärm brüllt vor Zorn, aber da ist auch dieser seltsame Kummer, dieser wilde Schmerz, den man beinahe auf der Zunge schmeckenkann. Matthew strahlt eine nervöse Unruhe aus, auch wenn er es zu verbergen sucht.
Ich ziehe mich weiter in die Dunkelheit zurück.
»Ich bin kein schlechter Mann, weißt du?«, sagt er plötzlich, schwingt aber immer noch die Machete. »Ich habe eine Frau. Ich habe eine Tochter.«
»Sie würden es nicht wollen, dass du einen unschuldigen Jungen verletzt, da bin ich sicher ...«
»Sei still!«, schreit er und ich höre, wie er ganz hart schluckt.
Er ist unsicher. Er zweifelt an dem, was er vorhat.
Was geht hier vor?
»Keine Ahnung, warum du so wütend bist«, sage ich. »Tut mir leid, aber was immer es auch sein mag ...«
»Ich möchte, dass du weißt, wofür du bezahlst«, unterbricht er mich laut, damit er nicht hören muss, was ich sage. »Du sollst eines wissen, Junge. Du sollst wissen, dass der Name meiner Mutter Jessica war.«
Ich bleibe stehen. »Ich verstehe nicht ...«
»Der Name meiner Mutter«, knurrt er. »Sie hieß Jessica.« Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.
»Was soll das ?«, sage ich. »Ich weiß nicht, was ...« »Hör zu,
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