Die Flucht
hinaus auf die Hauptstraße.
Überall rennen Menschen hin und her. Da sind Männer und Frauen mit Gewehren, sie laufen zu den Obstgärten, andere Männer und Frauen scheuchen Kinder (da sind sie wieder) in die Häuser zurück. In der Ferne hört man es knallen, rufen und schreien.
»Wo ist Hildy?«, frage ich.
Francia sagt kein Wort. Wir sind bei den Treppenstufen angelangt.
»Was ist mit Hildy?«, frage ich noch einmal, während wir hinaufhasten.
»Sie ist weggegangen, um zu kämpfen«, sagt Francia, ohne mich anzusehen. Sie öffnet die Tür. »Bei ihrer Farm waren sie zuerst. Tam war alleine da.«
»Oh nein!«, sage ich wieder, dämlich, wie ich bin. Als ob ein »Oh nein«! auch nur irgendetwas nützen würde.
Viola kommt die Treppe heruntergerannt.
»Wieso hast du so lange gebraucht?« Ihre Stimme ist ganz schrill. Ich weiß nicht, wen von uns beiden sie meint. Als sie Manchee erblickt, ringt sie keuchend nach Luft.
»Wir brauchen einen Verband«, sage ich knapp. »Mit deiner Wundermedizin.«
Sie nickt und eilt die Treppe hinauf.
»Ihr beide bleibt hier«, sagt Francia zu mir. »Geht nicht nach draußen, ganz gleich, was ihr auch hört.«
»Aber wir müssen fliehen!«, protestiere ich, denn ich begreife gar nichts mehr. »Wir müssen weg von hier!«
»Nein, Todd, mein Junge«, sagt sie. »Wenn Prentisstown dich haben will, dann ist das Grund genug für uns, dich nicht auszuliefern.«
»Aber sie haben Gewehre.«
»Die haben wir auch«, unterbricht sie mich. »Kein Spähtrupp aus Prentisstown wird es schaffen, dieses Dorf einzunehmen.«
Viola ist zurückgekehrt und kramt in ihrer Tasche nach dem Verbandszeug.
Ich unternehme einen neuen Versuch. »Francia ...« »Bleibt im Haus«, sagt sie. »Wir werden euch beschützen. Euch beide.«
Sie blickt uns eindringlich an, um herauszufinden, ob wir auch tun werden, was sie sagt, dann dreht sie sich um und geht. Um ihr Dorf zu verteidigen, wie ich annehme.
Einen Augenblick lang starren wir auf die geschlossene Tür, dann fängt Manchee wieder an zu wimmern und ich muss ihn absetzen. Viola holt ein viereckiges Verbandsstück hervor und ihr kleines Skalpell.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es auch bei Hunden wirkt«, sagt sie.
»Es ist besser als nichts«, erwidere ich.
Sie schneidet einen kleinen Streifen ab, und ich muss Manchees Kopf festhalten, während sie den Verband um seinen geschundenen Schwanz wickelt. Er knurrt und entschuldigt sich und knurrt und entschuldigt sich, bis Viola die Wunde ganz fest verbunden hat. Kaum lasse ich ihn los, fängt er an am Verband zu lecken.
»Hör auf damit«, sage ich.
»Juckt«, sagt Manchee.
»Dummer Hund.« Ich kraule seine Ohren. »Dummer, bescheuerter Hund.«
Viola tätschelt ihn auch, um ihn daran zu hindern, den Verband wegzulecken.
»Glaubst du, wir sind hier sicher?«, fragt sie nach einer Weile leise.
»Keine Ahnung.«
In der Ferne knallt es wieder. Wir zucken beide zusammen. Mehr Leute, die rufen. Mehr Lärm.
»Kein Zeichen von Hildy seither«, sagt Viola.
»Ich weiß.«
Wieder herrscht Schweigen, während wir beide Manchee wie verrückt tätscheln. In den Obstgärten des Dorfes ist Unruhe zu spüren.
Es scheint alles sehr weit weg zu sein, es scheint nicht wirklich zu geschehen.
»Francia hat gesagt, man gelangt nach Haven, wenn man immer dem Fluss folgt«, sagt Viola.
Ich sehe sie an und frage mich, ob ich sie wohl richtig verstanden habe.
Ich glaube, das habe ich.
»Du willst weg?«, frage ich.
»Sie werden uns immer verfolgen«, antwortet sie. »Wir bringen die Menschen um uns herum in Gefahr. Meinst du nicht auch, dass unsere Verfolger auf jeden Fall dranbleiben werden, jetzt, wo sie schon so weit gekommen sind?«
Ja, das glaube ich auch. Ich sage es nicht laut, aber vermutlich ist es so.
»Die Leute von Farbranch haben versprochen, uns zu beschützen«, erwidere ich stattdessen.
»Glaubst du das?«
Darauf habe ich keine Antwort. Ich muss an Matthew Lyle denken.
»Ich glaube, wir sind hier nicht mehr sicher«, sagt sie. »Und ich glaube, wir sind nirgendwo sicher«, sage ich. »Nirgendwo auf diesem Planeten.«
»Ich muss Kontakt zu meinem Schiff aufnehmen, Todd«, sagt sie fast flehentlich. »Die andern warten auf eine Nachricht von mir.«
»Und deshalb rennst du blindlings ins Ungewisse?«
»Du doch auch«, sagt sie. »Das merke ich doch.« Sie weicht meinem Blick aus. »Wenn wir zusammen gehen ...«
Bei diesen Worten mustere ich sie genau, ich versuche es zu sehen, versuche
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