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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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der Partie.«
    »Wie kommt es, dass sich der ganze Ort aufgemacht hat?« Sie schaut noch ein, zwei Sekunden durchs Fernglas, dann reicht sie es mir. »Wozu soll das gut sein?«
    »Woher soll ich das wissen?« Die Nachteinstellung des Fernglases taucht das Tal und alles andere in ein grünliches Licht. Ich sehe Reiter, die den Hügel hinabgaloppieren und dabei ihre Gewehre abfeuern, ich sehe, wie die Menschen in Farbranch das Feuer erwidern, aber die meisten von ihnenfliehen, fallen, sterben. Die Armee aus Prentisstown scheint keine Gefangenen zu machen.
    »Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden, Todd«, sagt Viola.
    »Ja«, sage ich und spähe weiter durch das Fernglas. Wenn alles grün leuchtet, ist es schwer, Gesichter zu erkennen. Ich drücke auf ein paar Knöpfe, bis ich denjenigen gefunden habe, der das Bild vergrößert.
    Der Erste, den ich zweifelsfrei wiedererkenne, ist Prentiss junior. Er führt den Haufen an, und wenn er gerade nichts findet, auf das er schießen kann, feuert er in die Luft. Dann entdecke ich Mr Morgan und Mr Collins, sie verfolgen ein paar Männer aus Farbranch in die Vorratsscheunen und schießen auf sie. Auch Mr O’Hare ist da und ein paar von des Bürgermeisters Lieblingen: Mr Edwin, Mr Henratty, Mr Sullivan. Und dort ist Mr Hammar, das Lächeln auf seinen Lippen wirkt aus dieser Entfernung grün und böse, als er fliehenden Frauen in den Rücken schießt, kleine Kinder fortjagt, und obwohl mein Magen leer ist, muss ich wegschauen, um mich nicht zu übergeben.
    Diejenigen, die zu Fuß sind, marschieren in die Stadt ein. Unter ihnen Mr Phelps, der Krämer. Das ist komisch, denn früher wirkte er kein bisschen kriegerisch. Und dann ist da noch Dr. Baldwin. Und Mr Fox. Und Mr Cardiff, der unser bester Melker war. Und dann Mr Tate, der die meisten Bücher verbrennen musste, damals, als der Bürgermeister sie geächtet und verboten hatte. Und Mr Kearny, der den Weizen für die ganze Stadt gemahlen hat und der immer leise sprach und jedem Jungen in Prentisstown Holzspielzeug zum Geburtstag gebastelt hat.
    Was haben ausgerechnet diese Männer in der Armee zu suchen?
    »Todd!«, ruft Viola und zupft mich am Ärmel.
    Ich glaube, keiner von denen, die dort marschieren, ist besonders glücklich. Sie wirken düster, kaltherzig und erschreckend, aber anders als Mr Hammar, eher so, als wäre jegliches Mitgefühl in ihnen erstorben.
    Trotzdem marschieren sie weiter. Und schießen weiter. Und treten weiter Türen ein.
    »Da ist Mr Gillooly«, sage ich und drücke das Fernglas an die Augen. »Er kann nicht mal das Schlachtvieh in seiner eigenen Metzgerei zerlegen.«
    »Todd!«, ruft Viola, und ich merke, wie sie hinter mir aus dem Gebüsch kriecht. »Lass uns gehen.«
    Was geht hier vor? Zugegeben, Prentisstown ist ein Ort, der so schrecklich ist, dass man es sich nicht einmal in seinen kühnsten Albträumen ausmalen mag, aber wie kommt es, dass plötzlich alle Bewohner zu einer Armee geworden sind? Es gibt Männer in Prentisstown, die durch und durch verkommen sind, aber doch nicht alle. Mr Gillooly mit einem Gewehr in der Hand ist ein Anblick, der so widersinnig ist, dass mir davon beinahe die Augen wehtun.
    Und dann begreife ich es.
    Bürgermeister Prentiss hat nicht einmal ein Gewehr in der Hand, mit der einen hält er die Zügel seines Pferds, die andere hängt schlaff herab. Er reitet in die Stadt ein wie bei einem abendlichen Spazierritt. Er sieht zu, wie Farbranch verwüstet wird, als wäre dieses Grauen nur ein Videofilm und noch nicht einmal ein besonders guter. Er lässt die anderen die Drecksarbeit machen und kehrt so unmissverständlich denAnführer heraus, dass niemand auf den Gedanken kommt, er könnte sich die Finger schmutzig machen.
    Wie bringt er es fertig, so viele Männer nach seiner Pfeife tanzen zu lassen?
    Ist er etwa gegen jede Kugel gefeit, weil er so furchtlos daherreitet?
    »Todd«, ruft Viola, »ich schwöre dir, ich gehe ohne dich.« »Nein, das wirst du nicht«, sage ich. »Einen Augenblick noch.«
    Ich präge mir jedes einzelne Gesicht ein, ich lasse meinen Blick von einem Prentisstown-Mann zum nächsten wandern, genau das tue ich. Denn wenn sie in Farbranch einmarschieren und bald genug feststellen, dass weder Viola noch ich dort sind. Wenn sie hinter uns her sind, dann muss ich es wissen.
    Ich muss es wissen.
    Ich muss jeden kennen, der hier einmarschiert, brennt und mordet. Mr Wallace, Mr Asbjornsen, Mr St. James, Mr Belgraves, Mr Smith senior, Mr

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