Die Flucht
mir ins Ohr. »Mach das Spiel einfach mit.«
»Welches Spiel?«
»Wenn wir es schaffen, auf die andere Seite der Herde zu kommen, dann haben wir die Herde zwischen uns und der Armee.«
Daran habe ich noch gar nicht gedacht. »Was hast du vor? Und was haben Ben und Hildy damit zu tun?«
»Er hat ein Gewehr«, flüstert sie und wirft Wilf einen argwöhnischen Blick zu. »Du hast selbst gesagt, wie unberechenbar manche Leute reagieren, wenn sie erfahren, wo du herkommst. Es ist mir irgendwie rausgerutscht.«
»Aber du hast mit seiner Stimme gesprochen.«
»Nicht sehr gut.«
»Gut genug«, sage ich schon wieder lauter, als ich es eigentlich will.
»Pst !«, zischt sie, aber bei dem Geräuschteppich, den dievorbeitrottende Herde produziert, und in Anbetracht von Wilfs offensichtlicher Beschränktheit könnten wir uns ebenso gut in normaler Lautstärke unterhalten.
»Wie machst du das?« Meine Verblüffung schwappt zu ihr hinüber.
»Ganz einfach, Todd. Ich lüge«, sagt sie und vollführt eine Geste, die mich zum Schweigen bringen soll. »Lügt ihr hier denn nicht?«
Natürlich lügen wir. New World und der Ort, aus dem ich stamme (ich vermeide es tunlichst, den Namen zu sagen, ich vermeide es sogar, ihn zu denken), scheinen ein einziges Lügengebäude zu sein. Aber das ist etwas anderes. Wie schon gesagt, Männer lügen unaufhörlich, sie belügen sich selbst, sie belügen andere Männer, sie belügen die ganze Welt. Wer kann also schon mit Gewissheit sagen, wann etwas Wahres aus deinem Kopf in die Welt purzelt? Jedermann weiß, dass du lügst, aber alle lügen genau wie du. Was ist dann schon dabei zu lügen? Was ändert es? Lügen sind Teil des endlos dahinfließenden menschlichen Lebens, sie sind Teil des Lärms. Manchmal kann man sie heraushören und manchmal nicht.
Aber auch wenn der Mensch lügt, hört er niemals auf, er selbst zu sein.
Alles, was ich von Viola weiß, ist das, was sie über sich gesagt hat. Die einzige Wahrheit, die ich kenne, ist die aus ihrem Mund. Als sie sagte, unsere Namen seien Hildy und Ben und wir kämen aus Farbranch, und als wir genauso redeten wie Wilf (obwohl er gar nicht aus Farbranch kommt), schien es mir, als wäre das alles wahr. Für einen kurzen Moment veränderte sich die Welt, eine Sekunde lang bestand sie nur aus Violas Stimme, und diese Stimme beschrieb nichts, sondernsie erschuf etwas. Viola machte aus jedem von uns beiden eine andere Person, einfach indem sie uns falsche Namen gab. Oh, mein Kopf.
»Todd! Todd!« Jäh taucht Manchee hinten am Fuhrwerk auf und lugt verwegen zwischen unseren Füßen hindurch hoch. »Todd!«
»Mist«, sagt Viola.
Ich springe vom Wagen und packe Manchee, mit einer Hand halte ich seine Schnauze zu, mit der anderen ziehe ich mich wieder auf den Wagen hoch. »Td?«, stößt er zwischen zusammengepressten Kiefern hervor.
»Ruhe, Manchee!«, befehle ich.
»Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt nötig ist«, sagt Viola lauter als sonst.
Ich blicke auf.
»Kh«, nuschelt Manchee.
Eines der Tiere läuft ganz nah an uns vorbei.
Jetzt sind wir mittendrin, eingeschlossen von der Herde. Eingeschlossen von dem Lied.
Und für eine Weile denke ich nicht mehr ans Lügen.
Ich habe das Meer noch nie gesehen, nur in Videos. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es nicht einmal einen See, nur den Fluss und den Sumpf. Vielleicht fuhren dort irgendwann einmal Boote, aber das muss vor meiner Zeit gewesen sein.
Wenn ich mir vorstellen müsste, wie es auf dem Meer ist, dann würde ich es mir so vorstellen wie jetzt. Die Herde umschließt uns, verschluckt alles, und übrig bleiben nur der Himmel und wir. Sie gleitet an uns vorbei wie eine unaufhaltsame Strömung, manchmal nimmt sie Notiz von uns, meistens aber genügt sie ganz sich selbst und dem Hier . Und dieses Worttönt hier, mitten in der Herde, so laut, als habe es die Herrschaft über dich übernommen, als ließe es ganz allein dein Herz schlagen und deine Lunge atmen.
Nach einer Weile stelle ich fest, dass ich Wilf und die ... die anderen Dinge völlig vergesse. Ich liege einfach auf der Pritsche des Karrens und sehe zu, wie die Tiere an mir vorüberziehen. Einige davon schnüffeln herum, kauen, stoßen einander hin und wieder mit den Hörnern an, ich sehe die Kleinen, die alten Bullen, die Riesen und die Zwerge, Tiere mit Narben oder mit zerzaustem Fell.
Viola liegt die ganze Zeit über dicht neben mir. Manchees kleiner Hundeverstand ist restlos überwältigt, mit hängender Zunge schaut
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