Die Flucht
der Gewalt.
»Ne Armee vonner verdammten Stadt«, antwortet er und fährt ungerührt weiter, als sprächen wir über Gemüsesorten. »Armee is aus’m Sumpf, will was von andren Siedlern, wird größer unterwegs, habter gesehen?«
»Woher weißt’n das, Wilf?«
»Geschichten«, antwortet Wilf. »Geschichten, werden entlang vom Fluss erzählt. Leute reden, wisster. Geschichten. Habter gesehen?«
Ich will Viola ein Zeichen geben und schüttle den Kopf, aber sie sagt: »Ja.«
Wilf blickt wieder über die Schulter. »Isse groß?«
»Sehr groß«, sagt Viola und schaut ihn mit ernster Mienean. »Musst dich drauf vorbereiten, Wilf. Große Gefahr kommt auf euch zu. Du musst Brockley Hills warnen.«
»Brockley Falls«, korrigiert sie Wilf.
»Musst sie warnen, Wilf.«
Wir hören, wie Wilf vor sich hin brummt, und dann merken wir, dass er lacht. »Sag euch was, auf Wilf hört keiner«, sagt er wie zu sich selbst, dann gibt er den Ochsen die Peitsche.
Wir brauchen beinahe den ganzen restlichen Nachmittag, um die Talsohle zu durchqueren. Mit Violas Fernglas sehen wir die Viecher in der Ferne entlangziehen, von Süd nach Nord, die Herde scheint einfach kein Ende zu nehmen. Wilf sagt kein Wort mehr über die Armee. Viola und ich reden nur das Nötigste, damit wir nichts über uns verraten. Es ist so anstrengend, den Lärm unverdächtig zu halten, ich brauche fast meine ganze Konzentration dafür. Manchee trottet hinter uns her, verrichtet seine Geschäfte und beschnüffelt jedes Blümchen.
Als die Sonne schon tief am Horizont steht, kommt der Karren endlich quietschend zum Stehen.
»Brockley Falls«, sagt Wilf und nickt mit dem Kinn in Richtung eines kleinen Wasserfalls bei einer Felsklippe. Um den Talsee, den der Wasserfall bildet, ehe er sich als Fluss davonschlängelt, drängen sich fünfzehn, zwanzig Häuser. Ein Weg dorthin zweigt von unserer Straße ab.
»Wir steigen hier ab«, sagt Viola.
Wir springen herunter und nehmen unsere Taschen vom Wagen.
»Dachts mir schon«, sagt Wilf über die Schulter.
»Dank dir, Wilf«, sagt Viola.
»Is schon gut«, antwortet er und starrt in die Ferne. »Stellter euch besser unter. Is bald da, der Regen.«
Unwillkürlich blicken Viola und ich nach oben. Kein Wölkchen steht am Himmel.
»Hm«, brummt Wilf. »Keiner hört auf Wilf.«
Viola schaut ihn an, und ihre Stimme gehört wieder ihr, als sie mit Nachdruck sagt: »Du musst sie warnen, Wilf. Bitte. Wenn man dir sagt, dass eine Armee anrückt, dann stimmt das, und die Menschen müssen darauf vorbereitet sein.«
Wilf brummt nur ein »Hm«, ehe er die Zügel schnalzen lässt und die Ochsen Richtung Brockley Falls lenkt. Er dreht sich nicht einmal nach uns um.
Wir blicken ihm eine Weile hinterher, dann machen wir uns zu Fuß auf den Weg.
»Autsch«, sagt Viola und schüttelt die Beine.
»Ich weiß«, sage ich. »Meine auch.«
»Glaubst du, er hat Recht?«, fragt Viola.
»Inwiefern?«
»Dass die Armee Verstärkung bekommt.« Sie ahmt Wilf nach. »›Wird größer unterwegs .‹ «
»Wie machst du das ?«, frage ich sie. »Dabei bist du nicht einmal von hier.«
»Das ist ein Spiel, das ich immer mit meiner Mutter gespielt habe«, sagt sie schulterzuckend. »Wir haben uns Geschichten erzählt. Jeder Person, die darin vorkam, haben wir eine eigene Stimme gegeben.«
»Kannst du meine Stimme auch nachmachen?«, fordere ich sie heraus.
Sie grinst. »Damit du verdammt noch mal mit dir selber reden kannst, wie?«
Ich lege die Stirn in Falten. »Das klingt ganz und gar nicht nach mir.«
Wir gehen zurück auf der Straße, Brockley Falls verschwindet hinter uns. Es war schön auf dem Wagen, aber wir haben nicht geschlafen. Wir versuchen so schnell zu gehen wie nur möglich, aber meist kommen wir nur im Schritttempo vorwärts. Vielleicht wird die Armee ja wirklich hinter uns aufgehalten, vielleicht muss sie ja wirklich warten, bis all die Tiere vorbeigezogen sind.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber jetzt rate mal, was nach nicht einmal einer halben Stunde passiert?
Es fängt an zu regnen.
»Die Leute sollten tatsächlich auf Wilf hören«, meint Viola und blickt nach oben.
Die Straße verläuft jetzt wieder neben dem Fluss, und wir finden einen passenden Platz, wo wir uns unterstellen können. Wir essen zu Abend, mal sehn, ob der Regen aufhört. Wenn nicht, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als im Regen weiterzulaufen. Keine Ahnung, ob Ben Ölzeug für mich eingepackt hat.
»Was meinst du mit
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