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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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bricht ein neuer Morgen an. Zweimal sehen wir Männer, die mit Pferdewagen unterwegs sind. Beide Male verstecken wir uns schnell im Wald, Viola hält Manchee die Schnauze zu, und ich versuche in meinem Lärm so wenig wie möglich an Prentisstown zu denken, bis sie wieder weg sind.
    Die Stunden fließen zäh dahin. Wir hören kein Flüstern mehr von der Armee, wenn es überhaupt von ihr stammte, aber es gibt sowieso keine Möglichkeit, das herauszufinden.Aus dem Morgen ist schon wieder Nachmittag geworden, als wir eine Siedlung auf einem Berg erspähen. Wir stehen auf einer Anhöhe, der Fluss zwängt sich hinunter ins Tal und fließt dann in einem breiteren Bett in eine weite Ebene, die wir durchqueren müssen.
    Viola richtet ihr Fernglas auf die Siedlung, dann reicht sie es an mich weiter. Der Ort besteht aus zehn bis fünfzehn Häusern, und selbst aus der Ferne ist zu erkennen, wie armselig und heruntergekommen alles ist.
    »Ich verstehe das nicht«, sagt Viola. »Nach dem üblichen Siedlungsplan sollte der Selbstversorger-Anbau schon seit Jahren abgeschlossen sein. Handel wird auch getrieben, wie wir wissen, also weshalb herrscht hier solche Armut?«
    »Du weißt nicht besonders viel über das Leben der Siedler. Kann das sein?«, frage ich etwas verdrossen.
    Sie verzieht den Mund. »Diese Dinge habe ich in der Schule gelernt. Seit ich fünf Jahre alt war, weiß ich, wie man eine funktionierende Kolonie gründet.«
    »Schule und Leben sind zweierlei.«
    »Tatsächlich?«, fragt sie und zieht die Augenbrauen spöttisch hoch.
    »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe ?«, blaffe ich sie an. »Ein paar von uns waren dermaßen damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern, dass sie nichts über Selbstsorger-Anbau lernen konnten.«
    »Es heißt Selbstversorger.«
    »Ist mir doch egal.« Ich gehe einfach weiter.
    Viola stapft hinter mir her. »Wenn unser Raumschiff hier ankommt, dann bringen wir euch das ein oder andere bei«, sagt sie. »Darauf kannst du dich verlassen.«
    »Oh ja, und danach stellen wir dummen Bauerntölpel uns in eine Reihe, um voller Dankbarkeit euren Hintern zu küssen«, sage ich, und mein Lärm tobt und ich sage natürlich nicht »Hintern«.
    »Bestimmt werdet ihr das«, sagt sie mit erhobener Stimme. »Ihr wart ja nicht grade erfolgreich damit, die Uhr zurückzudrehen und die finsteren Zeiten wieder aufleben zu lassen. Wenn wir erst hier sind, zeigen wir euch, wie man es richtig macht.«
    »Bis dahin sind es noch sieben Monate«, herrsche ich sie an. »Bis dahin wirst du genügend Gelegenheit haben herauszufinden, wie andere leben.«
    »Todd!«, bellt Manchee und erschreckt uns, bevor er wie der geölte Blitz lossaust.
    »Manchee!«, rufe ich ihm hinterher. »Komm zurück!« Und dann hören wir es.

22
    Wilf und das Meer aus Biestern
    Es ist geradezu unheimlich, der Lärm scheint überall zu sein, allerdings enthält er kaum Worte. Er erklimmt den Berg vor uns, rollt wieder hinab, er ist wie ein einziger Gedanke und scheint dennoch aus unzähligen Hirnen zu kommen, er ist wie Tausende von Stimmen, die alle dasselbe Lied singen.
    Ja, genau.
    Sie singen.
    »Was ist das ?«, fragt Viola ebenso entgeistert wie ich. »Das ist nicht die Armee, oder? Sie können uns doch unmöglich so schnell den Weg abgeschnitten haben.«
    »Todd!«, bellt Manchee von der kleinen Anhöhe herab. »Kühe, Todd! Riesenkühe!«
    Viola verzieht den Mund. »Riesenkühe?«
    »Keine Ahnung«, sage ich und schon renne ich den Hügel hinauf.
    Denn das Geräusch ...
    Wie soll ich es beschreiben?
    So klingen vielleicht Sterne. Oder Monde. Aber keine Berge. Für Berge ist der Ton zu schwebend. Es ist, als sänge ein Planet einem anderen etwas vor, hoch, lang gezogen und in vielen verschiedenen Stimmen, deren jede bei einem anderen Ton einsetzt, um dann in einem tieferen aufzugehen. Doch allevereinigen sich zu einer Lautkette, die traurig klingt, und auch wieder nicht, träge und auch wieder nicht, und jede Stimme singt nur ein Wort.
    Ein einziges Wort.
    Wir erreichen die Hügelkuppe, unter uns erstreckt sich eine weitere Ebene, der Fluss stürzt sich hinab, durchzieht sie wie eine silberne Ader das Felsgestein, und überall entlang des Flusses bis zum Horizont bahnen sich Tiere ihren Weg.
    Tiere, wie ich sie nie zuvor gesehen habe.
    Kräftig sind sie, keine Frage, und glatt vier Meter hoch. Ihr Fell ist zottig und schimmert silbrig, der Schwanz ist dick und zerzaust, hinter den Brauenwülsten erhebt sich ein Paar weißer,

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