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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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er zu, wie die Herde vorbeitrottet, und einen winzigen Augenblick lang, während Wilf uns über die Ebene schaukelt, ist dieser Anblick alles, was es gibt auf der Welt.
    Alles, was es gibt.
    Ich blicke zu Viola hinüber und sie blickt zu mir. Sie lächelt, schüttelt den Kopf und wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen.
    Hier .
    Hier .
    Wir sind hier und nirgendwo anders.
    Denn es gibt nichts anderes außer hier .
    »Also dieser ... Aaron«, sagt Viola nach einer Weile leise, und ich weiß genau, weshalb sie gerade jetzt beginnt von ihm zu sprechen.
    Im Innern von Hier ist es so sicher und geborgen, dass wir über jede Gefahr sprechen können, wenn wir wollen.
    »Ja«, frage ich zurück, ebenso leise wie sie, und sehe einer kleinen Tierfamilie zu, die hinter dem Wagen herläuft. DasMuttertier stupst sein neugieriges Junges vor sich her, das uns unentwegt anstarrt.
    Viola dreht sich von ihrem Platz aus zu mir und fragt: »Aaron war euer Geistlicher?«
    Ich nicke. »Der einzige in Prentisstown.«
    »Worüber hat er denn gepredigt?«
    »Das Übliche«, antworte ich. »Fegefeuer. Verdammnis. Jüngstes Gericht.«
    Sie sieht mich schräg von der Seite an. »Scheint mir nicht gerade das Übliche zu sein.«
    »Er war überzeugt, dass das Ende der Welt naht«, sage ich achselzuckend. »Wer kann ihm das Gegenteil beweisen?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Der Prediger auf dem Raumschiff war ganz anders. Pastor Marc. Er war nett und freundlich, und man hatte bei ihm immer den Eindruck, dass alles, was geschah, gut war.«
    Ich pruste los. »Nein, das klingt ganz und gar nicht wie Aaron. Er sagte immer ›Gott hört alles‹ und ›wenn einer von uns fällt, fallen wir alle‹. Es klang, als würde er sich darauf freuen.«
    »Ich habe gehört, wie er das gesagt hat.« Sie verschränkt die Arme vor dem Körper.
    Das Hier hüllt uns noch immer ein, es umschließt uns von allen Seiten.
    »Hat er ... hat er dir wehgetan? Damals, im Sumpf?«
    Sie schüttelt den Kopf und seufzt. »Er hat mich angeschrien und vor sich hin gemurmelt. Vielleicht war es eine Predigt, aber jedes Mal, wenn ich weglaufen wollte, kam er hinter mir her und hat noch mehr gewettert, und ich habe geweint und ihn gebeten, mir zu helfen, aber er hat mich nicht beachtetund weitergepredigt, und ich habe Bilder von mir selbst in seinem Lärm gesehen, damals, als ich noch nicht wusste, was ›Lärm‹ war. Ich habe noch nie im Leben solche Angst gehabt, nicht einmal, als unsere Raumkapsel abstürzte.«
    Wir blicken beide hinauf zur Sonne.
    »›Wenn einer von uns fällt, fallen wir alle‹«, wiederholt sie. »Was soll das überhaupt bedeuten?«
    Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich es selbst nicht genau. Deshalb schweige ich, und wir lassen uns einfach wieder in das Hier zurückfallen und uns noch ein wenig weitertragen.
    Hier sind wir.
    Und nirgendwo sonst.
    Nach einer Stunde (oder war es eine Woche oder eine Sekunde?), werden die Tiere allmählich weniger, wir sind am anderen Ende der Herde angelangt. Manchee springt vom Karren. Wir fahren so langsam, dass er keinerlei Gefahr läuft zurückzubleiben, deshalb lasse ich ihn tun, was er will. Viola und ich bleiben auf der Pritsche liegen, uns ist noch nicht nach Aufstehen.
    »Das war wunderbar«, sagt Viola leise. Das Lied der Herde wird allmählich schwächer. »Ich habe gar nicht mehr gemerkt, wie weh meine Füße tun.«
    »Ja«, stimme ich ihr zu.
    »Was genau war das eigentlich?«
    »Riesenviecher«, sagt Wilf, ohne sich umzudrehen. »Viecher, mehr nicht.«
    Viola und ich tauschen Blicke, beinahe haben wir vergessen, dass er da ist.
    Wie viel wir wohl von uns verraten haben?
    »So Viecher, ham die ’nen Namen?« Viola setzt sich auf und beginnt wieder mit ihrem Lügenspiel.
    »Sicher«, antwortet Wilf und gibt nun den Ochsen die Zügel frei, da wir die Herde hinter uns gelassen haben. »Zottelpack oder Feldbiester oder Antafants.« Von hinten sehen wir, wie er die Schultern zuckt. »Ich sag ›Viecher‹.«
    »Viecher«, sagt Viola.
    »Vieh«, sage ich.
    Wilf blickt über die Schulter. »Heda, kommt er aus Farbranch?«, fragt er.
    »So isses«, antwortet Viola mit einem schnellen Seitenblick auf mich.
    Wilf nickt ihr zu. »Habter Armee gesehen?«
    Mein Lärm braust auf, ehe ich es verhindern kann, aber auch jetzt nimmt Wilf keinerlei Notiz davon. Viola wirft mir einen sorgenvollen Blick zu.
    »Was für ’ne Armee soll’n das sein, Wilf?«, fragt sie und diesmal hat sie sich offenbar nicht ganz in

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