Die Flucht
gebogener Hörner. Mit ihren langen Nacken auf breiten Schultern beugen sie sich zum Gras hinunter, kauen es in ihren breiten Mäulern, während sie über trockene Erde trotten. Sie schlürfen Wasser, während sie den Fluss durchqueren, und es sind Tausende, Tausende, vom Horizont zu unserer Rechten bis zum Horizont zur Linken, und ihr Lärm singt nur ein einziges Wort in verschiedenen Tönen, aber dieses eine Wort verbindet sie, schweißt sie zu einer Gemeinschaft zusammen, während sie immer weiter über die Ebene laufen.
»Hier«, sagt Viola irgendwo neben mir. »Sie singen hier.« Sie singen Hier . Sie rufen es sich in ihrem Lärm gegenseitig zu.
Hier bin ich.
Hier sind wir.
Hier gehen wir.
Hier ist alles, was zählt.
Hier .
Es ist ...
Wie soll ich sagen?
Es ist wie das Lied einer Familie voller Harmonie, es ist ein Lied der Zugehörigkeit, man gehört dazu, sobald man es nur hört, es ist ein Lied, das einen umhegt und umschmeichelt und einen nie verlässt. Wenn du ein Herz hast, wird es brechen, wenn dein Herz gebrochen ist, wird es wieder heil.
Es ist ...
Wow!
Ich werfe Viola einen Blick zu, sie hat die Hand auf den Mund gepresst, ihre Augen sind feucht, aber durch die Finger hindurch sehe ich, wie sie lächelt, und ich will mit ihr reden.
»Kommter nich weit zu Fuß«, sagt da plötzlich eine Stimme neben uns.
Wir wirbeln herum, meine Hand tastet nach dem Messer. Von einem schmalen Pfad aus beobachtet uns ein Mann. Er sitzt auf einem leeren Ochsenkarren, sein Mund ist offen, als hätte er vergessen, ihn zuzumachen.
Auf dem Sitz neben ihm liegt ein Gewehr, das er vermutlich eben erst dorthin gelegt hat.
Von irgendwoher bellt Manchee: »Kuh!«
»Umen Wagen machen sie ’nen Bogen«, erklärt der Mann. »Zu Fuß nich sicher. Zerquetscht wie nix.«
Und wieder lässt er den Mund sperrangelweit offen. Sein Lärm, der von den vielen Hier der Herde beinahe zugeschüttet wird, sagt nichts anderes als sein Mund. Ich bemühe mich so sehr, nicht an bestimmte Wörter zu denken, dass mir der Kopf richtig wehtut.
»Kann euch mitnehmen«, sagt er. »Wenns wollt.«
Er deutet auf die staubige Landstraße, die unter den Hufen der Tiere kaum zu sehen ist. Dass die Tiere uns den Durchgangversperren und dass niemand so verrückt sein wird, sich einen Weg durch diese Herde bahnen zu wollen, versteht sich von selbst.
Ich drehe mich um und will etwas sagen, irgendetwas, um möglichst schnell von hier wegzukommen.
Stattdessen geschieht etwas Verblüffendes.
Viola schaut den Mann an und sagt: »Ich bin Hildy.« Dann zeigt sie auf mich. »Das is Ben.«
»Was ?«, stoße ich hervor und belle dabei fast so wie Manchee.
»Wilf«, sagt der Mann zu Viola, und ich brauche eine Weile, ehe mir klar wird, dass er so heißt.
»Holla, Wilf«, sagt sie. Ihre Stimme ist kein bisschen mehr ihre Stimme, es ist eine völlig andere, sie dehnt sich und verschluckt die Silben, sie biegt sich und ordnet die Buchstaben neu, und je mehr Viola spricht, desto fremder klingt sie.
Desto mehr klingt sie wie Wilf.
»Sin von Farbranch. Und du?«
Wilf zeigt unbeholfen mit dem Daumen über die Schulter. »Bar Vista«, sagt er. »Unterwegs nach Brockley Falls. Vorräte holen.«
»So ein Glück«, sagt Viola. »Wollmer auch hin.«
Meine Kopfschmerzen werden schlimmer. Ich presse die Hände gegen die Schläfen, um meinen Lärm einzudämmen, um nicht falsche Gedanken in die Welt hinauspurzeln zu lassen. Zum Glück baden wir geradezu im Hier .
»Dann mal rauf«, ruft Wilf achselzuckend.
»Komm, Ben«, sagt Viola, geht zur Rückseite des Karrens und wuchtet ihre Tasche hinauf. »Wilf nimmt uns mit.«
Sie springt auf den Wagen, Wilf schnalzt mit den Zügelnund lässt die Ochsen anziehen. Sie trotten langsam los und Wilf würdigt mich keines Blickes, als er an mir vorüberfährt. Ich stehe verdattert da, sehe auch Viola an mir vorbeifahren, die wie wild gestikuliert, damit ich mich endlich neben sie setze. Mir bleibt eben nichts anderes übrig. Ich laufe los und stemme mich auf den Karren hinauf.
Ich setze mich neben sie und starre sie mit weit aufgerissenem Mund an, mein Unterkiefer muss sich irgendwo bei meinen Knöcheln befinden. »Was soll das ?«, raunze ich viel zu laut, denn eigentlich sollte es ein Flüstern sein.
»Pst!«, flüstert sie und schaut über die Schulter nach vorne zu Wilf, aber nach seinem Lärm zu schließen, könnte er ebenso gut bereits vergessen haben, dass er uns mitgenommen hat. »Ich weiß nicht«, raunt sie
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