Die Flucht
Erste-Hilfe-Wunderkasten hervorholt. Ich halte ihn fest, und sie zwingt ihn, eine Pille zu schlucken, die ihn müde macht, dann reinigt sie seine frischen Zahnlücken und tupft eine Salbe in sein Auge. Anschließend verbindet siees, und er wirkt so winzig und zerschlagen, dass ich ihn, als er mich aus einem Auge matt anschaut und leise murmelt: »Doooddd?«, einfach an mich drücken muss, mich mit ihm hinsetze, unter die Büsche, geschützt vor dem Regen, während Viola alles wieder einpackt und meinen Rucksack aus dem Schlamm zieht.
»Deine Kleidung ist durchweicht«, sagt sie nach einer Weile. »Und das Essen ist zerdrückt. Aber das Buch ist noch in seiner Hülle. Das Buch ist in Ordnung.«
Der Gedanke daran, dass meine Mutter wissen könnte, was für ein Feigling ihr Sohn geworden ist, weckt in mir das Verlangen, das Buch in den Fluss zu werfen.
Aber ich tu’s nicht.
Stattdessen fesseln wir Prentiss junior mit seinem eigenen Seil, und dabei stellen wir fest, dass die Stromschläge die Holzbeschläge an seinem Gewehr weggesprengt haben. Was ärgerlich ist, denn Holz hätten wir gut brauchen können.
»Womit hast du ihm diese Stromschläge versetzt?«, frage ich keuchend, während wir ihn an den Straßenrand schleppen. Leute, die man bewusstlos geschlagen hat, sind schwer.
»Es war ein Gerät, das dem Raumschiff mitteilen kann, wo ich mich auf diesem Planeten aufhalte«, sagt sie. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, es zu zerlegen.«
Ich stehe auf. »Und woher sollen die Leute in deinem Raumschiff jetzt erfahren, wo du bist?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Wir müssen einfach darauf hoffen, dass es in Haven auch so ein Gerät gibt.«
Ich schaue zu, wie sie zu ihrer Tasche geht und sie aufhebt, und hoffe inständig, dass es in Haven auch nur die Hälfte der Dinge gibt, die sie erwartet.
Wir brechen auf. Prentiss junior hatte Recht gehabt: Es war ausgesprochen dumm, auf der Straße zu bleiben, deshalb halten wir uns jetzt zwanzig, dreißig Meter entfernt, auf der dem Fluss abgewandten Seite, versuchen aber dennoch, die Straße so gut wie möglich im Auge zu behalten. Während es langsam Nacht wird, tragen wir abwechselnd Manchee.
Wir reden kaum.
Vielleicht hat sie ja Recht? Vielleicht sind die Männer genau darauf aus: Wenn sie mich dazu bringen, dass ich mich ihnen anschließe, dann bringen sie jeden dazu. Womöglich bin ich so eine Art Test für sie, wer weiß, die Leute von Prentisstown sind verrückt genug, um einen solchen Unsinn zu glauben.
Wenn einer von uns fällt, fallen wir alle.
Aber zum einen erklärt das nicht, weshalb Aaron hinter uns her ist, und zweitens habe ich selbst gehört, wie gut sie lügen kann. Was sie sagt, klingt gut, aber wer weiß schon, ob sie die Wahrheit, die sie mir verkündet, nicht schlicht und einfach selbst erfunden hat?
Denn ich werde mich niemals der Armee anschließen, und Bürgermeister Prentiss muss das doch wissen, nach allem, was sie Ben und Cillian angetan haben, und dabei ist es auch ganz egal, was im Lärm von Prentiss junior zu lesen ist. Nein, da ist Viola gründlich auf dem Holzweg. Was immer sie von mir wollen, was immer der Grund für meine Schwäche ist, die mich daran hindert, einen Menschen zu töten, auch wenn er es noch so sehr verdient – es muss sich etwas daran ändern, damit ich ein Mann werde. Es muss, denn wie soll ich sonst jemals einem anderen Menschen in die Augen schauen können?
Mitternacht geht vorüber und ich bin noch fünfundzwanzigTage und eine Million Jahre weit davon entfernt, ein Mann zu werden.
Wenn ich Aaron getötet hätte, wüsste Bürgermeister Prentiss jetzt nicht, wo Aaron mich zuletzt gesehen hat.
Wenn ich zu Hause auf der Farm in der Lage gewesen wäre, Prentiss junior zu töten, hätte er die Männer des Bürgermeisters nicht zu Ben und Cillian führen können und er hätte Manchee nicht so wehgetan.
Wenn ich nur etwas von einem Mörder in mir gehabt hätte, wäre ich geblieben und hätte Ben und Cillian geholfen, sich zu verteidigen.
Wenn ich ein Mörder wäre, wären sie vielleicht noch am Leben.
Darüber denke ich jeden Tag von Neuem nach.
Wenn es sein muss, werde ich zum Mörder werden. Du wirst schon sehen.
Das Gelände wird unwegsamer und steiler, weil sich der Fluss wieder in eine Schlucht vergräbt. Wir ruhen uns für kurze Zeit unter einem Felsvorsprung aus und verzehren den Teil der Vorräte, der beim Kampf mit Prentiss junior keinen Schaden genommen hat.
Ich lege Manchee quer über meinen Schoß.
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