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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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»Was war das für eine Pille?«
    »Eine klitzekleine Portion von einem Schmerzmittel für Menschen«, antwortet sie. »Ich hoffe, es war nicht zu viel für ihn.«
    Ich streiche ihm übers Fell. Er ist warm und schläft, also ist er wenigstens noch am Leben.
    »Todd ...«, beginnt sie, aber ich unterbreche sie sofort. »Ich möchte so lange weitergehen wie möglich«, sage ich.
    »Ich weiß, wir sollten jetzt schlafen, aber lass uns weitergehen, bis wir nicht mehr können.«
    Sie schweigt eine Minute, dann sagt sie: »In Ordnung«, und dann sagen wir nichts mehr, sondern essen schweigend unseren letzten Proviant auf.
    Es regnet die ganze Nacht über. Man kann sich kaum etwas Mühsameres vorstellen, als im strömenden Regen durch den Wald zu stapfen, wo eine Milliarde Regentropfen von einer Milliarde Blätter fällt, während der Fluss anschwillt und dröhnt und der Schlamm unter den Füßen schmatzt. In der Ferne ist hin und wieder Lärm zu hören, wahrscheinlich kommt er von den Waldtieren, aber sie lassen sich niemals sehen. Jedes Mal, wenn wir uns nähern, verstummt der Lärm.
    »Lauern hier Gefahren?«, fragt mich Viola. Sie muss lauter sprechen, um den Regen zu übertönen.
    »Zu viele, als dass man sie zählen könnte«, antworte ich. Ich deute auf Manchee, den sie im Arm hält. »Ist er schon aufgewacht?«
    »Noch nicht.« Ihre Stimme klingt besorgt. »Ich hoffe wirklich, ich ...«
    Und so sind wir völlig unvorbereitet, als wir um einen Felsvorsprung biegen und mitten in ein Lager platzen.
    Wir bleiben wie vom Donner gerührt stehen und starren auf das Bild, das sich uns bietet.
    Ein Feuer brennt.
    Darüber hängt frisch gefangener Fisch an einem Spieß. Über einem Stein gebeugt steht ein Mann, der einem zweiten Fisch die Schuppen abzieht.
    Der Mann blickt auf, als er ein Geräusch hört.
    So wenig Zeit, wie ich brauchte, um zu wissen, dass Violaein Mädchen ist, obgleich ich noch nie zuvor eines gesehen hatte, so schnell begreife ich in demselben Augenblick, den ich brauche, um mein Messer zu ziehen, dass dies auf gar keinen Fall ein Mensch ist.
    Er ist ein Spackle.

25
    Mörder
    Die Welt steht still.
    Der Regen hört auf zu fallen, das Feuer hört auf zu brennen, mein Herz hört auf zu schlagen.
    Ein Spackle.
    Es gibt keine Spackle mehr.
    Alle sind in den Kriegen umgekommen.
    Es gibt keine Spackle mehr.
    Hier steht einer, direkt vor mir.
    Er ist groß und dünn, er sieht aus wie in den Videos, an die ich mich erinnere: weiße Haut, lange Finger, der Mund mitten im Gesicht, wo er gar nicht hingehört, die Ohren hängen bis zum Unterkiefer herab, die Augen schwärzer als die Steine im Sumpf, dort, wo Kleidung sein sollte, wachsen Flechten und Moos.
    Fremdartig. So fremdartig, wie etwas nur fremdartig sein kann.
    Heilige Scheiße. Man könnte die Welt, wie ich sie kenne, auch gleich zusammenknüllen und wegschmeißen.
    »Todd?«, sagt Viola fragend.
    »Rühr dich nicht«, flüstere ich.
    Denn durch das Plätschern des Regens hindurch kann ich den Lärm des Spackle hören.
    Er enthält keine richtigen Wörter, es sind nur Bilder, merkwürdig verzerrt und entstellt, in völlig falschen Farben, aber es sind Bilder von mir und von Viola, wir stehen vor ihm und schauen entsetzt.
    Es sind Bilder des Messers, das ich jetzt in der ausgestreckten Hand halte.
    »Todd«, sagt Viola wieder, diesmal schwingt eine leise Warnung darin mit.
    In seinem Lärm verbirgt sich noch mehr. Er hat Gefühle, sie sind ein einziges Durcheinander.
    Angstgefühle.
    Ich spüre seine Furcht.
    Das ist gut so.
    Mein Lärm färbt sich rot.
    »Todd«, sagt Viola wieder.
    »Hör auf, meinen Namen zu sagen«, herrsche ich sie an. Der Spackle richtet sich langsam auf. Er hat sein Lager unter einem Felsvorsprung an einem Hang errichtet. Ein Großteil des Lagers ist trocken geblieben, da liegen Bündel und eine zusammengerollte Matte aus Moos, vielleicht sein Bett. An der Felswand lehnt etwas Langes, Glänzendes.
    Ich lese in seinem Lärm, dass der Spackle daran denkt. Es ist der Speer, mit dem er im Fluss Fische gefangen hat. »Tu’s nicht«, sage ich zu ihm.
    Ich denke eine Sekunde darüber nach, wirklich nur eine Sekunde, wie klar und deutlich ich dies alles vor mir sehe, wie deutlich ich ihn vor mir sehe, wie er noch vor Kurzem mit dem Speer im Fluss stand, wie leicht ich seinen Lärm verstehe, selbst wenn er nur aus Bildern besteht.
    Aber diese Sekunde vergeht wie ein Blitz.
    Denn ich sehe, dass der Spackle vorhat, sich auf den Speer zu

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