Die Flucht
Gesicht. Mit der Spitze pikst er mich in die Nase, ich muss den Kopf immer weiter zurückbeugen.
»Mit einem Messer kann man eine ganze Menge anfangen«, sagt er, »auch wenn man niemanden damit umbringen will.«
Ich such gar nicht erst nach einem Fluchtweg, ich blicke ihm geradewegs in die Augen. Sie sind wach und lebhaft, es sind die Augen eines Gewinners, und so ist auch sein Lärm. Darin sehe ich ihn in Farbranch, sehe ihn daheim auf unserer Farm, sehe, wie ich vor ihm knie.
In meinem Lärm hingegen ist nichts als meine eigene riesengroße Dummheit, meine Nichtswürdigkeit, mein Hass. Es tut mir leid, Ben.
Es tut mir so unendlich leid.
»Andererseits«, überlegt er weiter, »bist du ja noch gar kein Mann, stimmt’s?« Er senkt die Stimme. »Und du wirst niemals einer werden.«
Er lässt das Messer in seiner Hand hin- und hergleiten und streift mit der Klinge meine Wange.
Ich schließe die Augen.
Und dann spüre ich, wie von hinten Stille über mich hinwegschwappt.
Ich reiße die Augen auf.
»Ach, sieh mal einer an«, sagt Prentiss junior und blickt über meinen Kopf hinweg. Ich knie mit dem Rücken zum Wald, dem Fluss gegenüber, und ich spüre Violas Stille so deutlich, als ob sie vor mir stünde.
»Lauf weg!«, brülle ich sie an, ohne mich umzudrehen. »Mach, dass du wegkommst.«
Sie kümmert sich nicht um mich. »Zurück da«, höre ich sie zu Prentiss junior sagen. »Ich warne dich.«
»Du warnst mich?«, fragt er mit seinem widerwärtigen Grinsen und deutet mit dem Messer auf sich.
Dann zuckt er leicht zusammen, als etwas gegen seine Brust schlägt und dort hängen bleibt. Es sieht aus wie ein Gewirr ausdünnen Kabeln an einem Plastikkolben. Prentiss junior schiebt das Messer darunter und versucht das Ding abzuschneiden, doch es bleibt hängen. Er schaut zu Viola hoch und grinst zynisch. »Was immer das sein soll, Schwester«, sagt er, »es funktioniert nicht.«
Und dann – zack!
Ein greller Blitz flammt vor meinen Augen auf, ich spüre, wie mich eine Hand von hinten am Kragen packt und wegzerrt, bis es mir die Luft abschnürt und ich zu keuchen anfange.
Ich falle zur Seite, als Prentiss junior am ganzen Körper zu zucken beginnt. Er schleudert das Messer fort, Funken stieben aus den Drähten, springen auf ihn über. Rauch und Qualm steigen auf, aus seinen Ärmeln, seinem Kragen, seiner Hose. Viola hat mich immer noch am Kragen gepackt, zerrt mich weiter. Da stürzt er wie ein gefällter Baum zu Boden, mit dem Gesicht zuerst in den Schlamm, genau auf sein Gewehr.
Jetzt erst lässt sie mich los und wir beide taumeln zu einer kleinen Böschung am Straßenrand. Ich fasse mir an die Kehle, wir bleiben einen Augenblick lang reglos liegen, atmen schwer. Der Funkenregen erlischt und Prentiss junior zuckt und windet sich im Schlamm.
»Ich hatte Angst«, beginnt Viola zwischen zwei tiefen Atemzügen, »bei dem vielen Wasser, das hier überall ist«, sie schnappt nach Luft, »dass es dich und mich auch erwischen könnte«, sie schnappt erneut nach Luft, »aber er wollte gerade mit dem Messer ...«
Wortlos stehe ich auf, besänftige meinen Lärm, den Blick auf das Messer gerichtet.
»Todd ...«, sagt Viola.
Ich hebe das Messer auf und stelle mich über ihn. »Ist er tot?«, frage ich, ohne den Blick von ihm zu wenden.
»Er müsste eigentlich noch leben«, antwortet sie. »Es war nur die Spannung einer ...«
Ich hole mit dem Messer aus.
»Nein, Todd!«
»Nenn mir einen einzigen Grund«, fordere ich sie auf, das Messer hoch erhoben, Junior noch immer fest im Visier.
»Du bist kein Mörder, Todd«, sagt sie.
Ich wirble herum, mein Lärm tobt wie ein wildes Tier. »Sag das nicht! Sag das nie wieder!«
»Todd ...« Sie streckt ihre Hand nach mir aus, ihre Stimme will mich beruhigen.
»Ich bin daran schuld, dass wir in der Patsche sitzen! Sie sind nicht hinter dir her. Hinter mir sind sie her!« Ich deute auf Prentiss junior. »Wenn ich einen von ihnen umbringe, sind wir vielleicht ...«
»Nein, Todd, hör zu«, bettelt sie und kommt näher. »Hör zu!« Ich schaue sie an. Mein Lärm ist so abstoßend und mein Gesicht ist so verzerrt, dass sie einen Moment lang zögert, doch dann kommt sie noch etwas näher. »Hör zu, was ich dir sage.«
Und dann sprudeln mehr Wörter aus ihr heraus, als ich jemals von ihr gehört habe.
»Als du mich damals gefunden hast, im Sumpf, da rannte ich vor diesem Mann weg, vor Aaron, schon vier Tage lang war ich vor ihm auf der Flucht gewesen, und du warst erst
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