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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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Zu sehen, wie Kim sich wand und wie sie sich gleichzeitig wirklich Gedanken zu machen schien. Etwas davon musste doch echt sein, oder?
    »Wie hast du die Wandlung vom Aschenputtel zur Schulkönigin geschafft?« Ich wollte keine verflixte Unterhaltung mit Kim Randall führen. Verflucht, so normal mit ihr zu sprechen war einfach nur seltsam! Trotzdem wollte ich es wirklich wissen.
    »In dem Sommer bevor ich hierherkam, wurde ich meine Zahnspange los und nötigte meine Mom, mich für drei Monate auf eine Fitnessfarm zu schicken. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um hinterher so auszusehen wie jetzt. Ich habe geschwitzt und geheult und mir geschworen, dass ich mich nie wieder von jemandem runtermachen lassen würde.«
    Sichtlich hatte sie beschlossen, allen anderen zuvorzukommen und lieber selbst diejenige zu sein, die sich über andere lustig machte. Schlag zu, bevor ein anderer es tut. Nettes Motto.
    »Darüber habe ich wohl vergessen, wie man sich in der Rolle des Opfers fühlt. Eigentlich war es mir auch egal«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Solange es nur mir nicht noch einmal passierte.«
    Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, hielt es unter den Hahn und füllte es mit Wasser. Aus einem Tablettenröhrchen schüttete sie zwei Aspirin in ihre Handfläche, warf sie sich in den Mund und spülte sie herunter.
    »Warum hast du deine Meinung geändert?« Das war meine Chance, zu erfahren, wie der Fluch auf Kim wirkte und wie er ihr Denken und ihre Gefühle beeinflusste. Etwas, das ich unter normalen Umständen nie herausfinden würde.
    Einen Moment lang sah sie mich so ratlos an, als hätte ich sie gebeten, mir die Relativitätstheorie zu erklären. Dann zuckte sie die Schultern. »Ich weiß auch nicht so genau. Vielleicht ist mir einfach klar geworden, dass es falsch ist. Die Sache mit der Putzkammer, als ich am nächsten Tag dein Gesicht gesehen habe … Ich glaube, das hat mich zum Nachdenken gebracht. Plötzlich habe ich mich daran erinnert, wie es früher für mich gewesen ist. Wie es sich angefühlt hat. Und ganz ehrlich, Raine, ich schäme mich wirklich dafür, was ich getan habe.«
    Es war das erste Mal, dass ich Kim und ihr Verhalten tatsächlich verstand. Das bedeutete nicht, dass ich es deswegen guthieß, aber immerhin begriff ich, warum sie so war. Dass mein Fluch sich so natürlich in ihre Gedankenwelt einfügte und sie nicht einmal ein bisschen stutzen ließ, war unheimlich und genial zugleich.
    So unglaublich ich es aus Forschungsgesichtspunkten fand, auf diesem indirekten Weg mehr über die Wirkungmeines Fluchs zu erfahren, so gruselig war es, mich mit Kim über persönliche Dinge zu unterhalten. Es fühlte sich einfach falsch an. Abgesehen davon war es längst nicht mehr so befriedigend, zu sehen, wie ihre Freundinnen sie schnitten, nachdem ich so viel über sie wusste.
    In den kommenden Tagen saß Kim zu den Mahlzeiten zwar wie gewohnt am Tisch ihrer Freunde, doch die Stimmung war angespannt. Tanya, Cin und Michelle schnitten sie auch weiterhin und sparten nicht mit bissigen Bemerkungen. Lediglich Max’ eisige Blicke brachten die drei zum Schweigen. Die anderen schienen nicht so recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Ein Teil hielt sich ganz raus, andere – in erster Linie ein paar der Mädchen – sympathisierten mit Tanya, während die Jungs, die mit Max im Basketballteam spielten, für Kim Partei ergriffen. Insgesamt eine mehr als explosive Mischung.
    Immer wieder kam es zu bissigen Wortwechseln oder bösen Blicken. Fast schon war es, als würden einige von ihnen endlich ihr wahres Gesicht zeigen und begreifen, dass sich da Leute zusammengefunden hatten, die eigentlich keine Freunde sein konnten, da sie schon immer miteinander in Konkurrenz gestanden hatten. Ganz besonders, wenn es um Beliebtheit ging.
    Kim war die Einzige, die sich aus allen Streitigkeiten heraushielt. Sie reagierte nicht auf böse Bemerkungen und wurde immer stiller. Sie schminkte sich nicht mehr so stark, ihre Haare waren nicht mehr mit der üblichen Sorgfalt drapiert, und statt die Pausen mit ihren einstigen Freundinnen zu verbringen, hing sie plötzlich mit den Leuten herum, die sie bis vor Kurzem noch als Verlierer bezeichnet hatte.
    Sie wurde von Tag zu Tag blasser. Bei den Mahlzeiten stocherte sie nur noch in ihrem Essen herum, ließ das meiste aber auf dem Teller zurück. Ihr Verbrauch an Aspirinschnellte so sprunghaft in die Höhe, dass ich mich zu fragen begann, ob ihre Verfassung meinem Fluch

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