Die Fluchweberin
sollte er misstrauisch sein? Im Gegensatz zu gerade eben, als mir meine Gedanken herausgerutscht waren, hatte ich mich im Unterricht nicht verdächtig benommen. Nicht einmal, als ich in Kims Kopf gesteckt hatte. Oder in ihrem Geist. Oder wo auch immer das gewesen sein mag.
»Zu viel Tee«, sagte ich mit einem Lächeln, von dem ich hoffte, dass es zugleich entschuldigend und peinlich berührt wirkte.
Sein Grinsen wurde breiter. »Ab morgen wird rationiert, damit du mir nicht noch einmal davonläufst.«
11
Der Rest des Tages verlief vollkommen entspannt. Auch wenn ich innerlich zusammenzuckte und schon das Schlimmste befürchtete, als Kim die Bibliothek betrat, geschah nichts. Ich wurde weder noch einmal in ihren Geist gesogen noch zeigte mein Fluch irgendwelche anderen ungewöhnlichen Auswüchse.
Kim war einfach nur freundlich und nach außen hin gut gelaunt. Lediglich die verstohlenen Blicke, mit denen sie Michelle und die anderen bedachte, ließen erahnen, was wirklich in ihr vorging. Sie saß zwar wie gewohnt mit ihren Freundinnen zusammen, doch die Machtverhältnisse hatten sich verschoben, und fast schon kam es mir vor, als würden die anderen Mädchen Kim nicht länger als eine der Ihren ansehen. Vermutlich hatte sie es nur noch ihrem Status als Max’ Freundin zu verdanken, dass die drei sie überhaupt noch in ihrer Nähe duldeten.
Ungeachtet der bösen Kommentare, die sie von ihren Freundinnen dafür kassierte, hörte Kim nicht auf, freundlich zu sein. Später im Speisesaal gingen Skyler und ich mit unseren Tabletts an Kim und den anderen vorbei, als Tanya sie mit dem Ellbogen in die Seite stieß.
»Da sind deine neuen Freunde«, ätzte sie. »Willst du sie nicht abknutschen?«
»Ich weiß nicht, warum ihr so gehässig seid!«, zischte Kim. »Ihr benehmt euch doch sonst nicht so!«
Cin zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich würde eher sagen, du benimmst dich sonst nicht so.« Sie, Michelle und Tanya nahmen ihre Tabletts und ließen Kim stehen, die noch auf ihr Essen wartete.
Für den Rest des Abends mieden sie Kim wie eine ansteckende Krankheit. Sie saßen zusammen am Tisch, doch sie sprachen nicht miteinander. Auch am nächsten Tag änderte sich daran nichts.
Am Vormittag passte Kim mich in einer Pause im Aufenthaltsraum ab, als ich mir einen Tee holte.
»Weißt du«, begann sie, »es tut mir wirklich leid, wie ich mich benommen habe.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Immerhin wusste ich ja, dass es nicht Kim war, die da sprach, sondern lediglich mein Fluch. Deshalb bedeutete mir ihre Entschuldigung auch nichts. »Schon okay.«
»Nein, wirklich. Ich hätte das nicht tun dürfen!« Ich nahm meine Tasse und ging zur Anrichte, um mir Zucker zu holen. Kim folgte mir. »Ich hätte mich schon viel früher daran erinnern sollen, wie es ist, ausgegrenzt zu werden.«
Ich drehte mich zu ihr herum. »Woher solltest du das wissen?«
Ihr Blick ließ mich innehalten. Sie kannte es! Ich wusste nicht wann oder warum, aber irgendwann in ihrem Leben war Kim wie ich gewesen – eine Außenseiterin.
»Bis vor ein paar Jahren hatte ich eine riesige Zahnspange und wog zwanzig Kilo mehr.« Sie sah mir in die Augen, doch ihr Blick war weit weg, in der Vergangenheit. »Ich wurde auf Schritt und Tritt gehänselt und ausgelacht. Die einzigen Freunde, die ich zu dieser Zeit hatte, waren die, mit denen sonst keiner etwas zu tun haben wollte.«
»Du meinst, die, mit denen die beliebten Leute nichts zu tun haben wollten.«
Sie machte ein betretenes Gesicht, dann nickte sie. »Ich wollte immer so sein wie diese Leute. Ich wollte beliebt sein, von allen geachtet und verehrt.«
»Herzlichen Glückwunsch, das hast du geschafft.«
Ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Ruhm ist ziemlich vergänglich, wie mir scheint. Und er verzeiht keine Fehler.«
»Du hältst es also für einen Fehler, andere wie Menschen zu behandeln?«
»Ja. Nein!« Sie schüttelte den Kopf, dann zuckte sie die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass man offensichtlich nicht beides haben kann. Beliebt zu sein und freundlich zu allen zu sein, scheint sich nicht sonderlich gut zu vertragen.«
»Vielleicht sind die Leute, mit denen du herumhängst, auch einfach nicht das, was man gemeinhin unter echten Freunden versteht.«
»Sie sind ganz schön oberflächlich, was?«
Ich sagte nichts.
»Ich bin ganz schön oberflächlich«, fügte sie hinzu.
Jetzt kamen wir der Sache schon näher. Oh Mann, ich liebte diesen Fluch!
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