Die Fluchweberin
keine Alarmanlagen und keine Videoüberwachung. Nur eine zweieinhalb Meter hohe Mauer aus gemauertem Sandstein. Obwohl ich Mitglied des Volleyballteams war, zeichnete ich mich nicht gerade durch große Sportlichkeit aus. Zu meiner Erleichterung waren die Fugen zwischen den einzelnen Mauersteinen aber so groß, dass ich sie bequem als Tritte benutzen konnte.
Es war ein Kinderspiel, über die Mauer zu kommen. Aufder anderen Seite landete ich weich mit den Füßen im Gras. Hier fühlte sich die Luft anders an. Kälter, freier. Als hätte die Mauer den feuchten Geruch des Waldes abgehalten. Es war lächerlich, denn Holbrook Hill war schließlich kein Knast, trotzdem überraschte mich das Gefühl von Weite, das mich jenseits der Grenzen des Anwesens überkam. Mich fröstelte.
Ein breiter Streifen Wiese trennte mich von den ersten Ausläufern des Waldes. Ich war noch nie hier gewesen. Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, mich bei einem Waldspaziergang ein wenig umzusehen, hätte ich zumindest gewusst, wohin ich gehen konnte. Jetzt musste ich mir meinen Weg im Mondschein suchen und konnte nur hoffen, dass mein Orientierungssinn gut genug funktionierte, damit ich auch wieder zurückfand. Erst einmal musste ich allerdings hinein.
Ich überquerte die Wiese im Dauerlauf und wurde erst langsamer, als sich mir die Schatten der ersten Baumreihen entgegenreckten. Die Luft war erfüllt vom Geruch von Fichtennadeln und Harz. Schon bald wünschte ich mir, ich hätte meine Jacke angezogen. Es war deutlich kälter als tagsüber; was es aber wirklich unangenehm machte, war die Feuchtigkeit, die beinahe greifbar in der Luft hing. Jetzt jedoch war es zu spät, um umzukehren. Ganz sicher würde ich nicht das Risiko eingehen, nur weil ich nicht mit ein wenig Zähneklappern fertigwurde.
Ich machte einen Schritt vorwärts, als mich ein Prickeln in meinem Nacken innehalten ließ. Als würden fremde Augen über meine Haut streichen. Das war albern! Seit wann konnte man Blicke spüren? Sicher, manchmal merkte ich, wenn mich jemand beobachtete, aber das war nichts weiter als ein diffuses Gefühl. Keine Berührung auf meiner Haut.
Bevor ich zwischen den Bäumen verschwand, warf ich einen Blick zurück. Nirgendwo war etwas zu sehen. Was hatte ich auch erwartet? Dass mir Direktor Jenkins eine Horde Lehrer auf den Hals gehetzt hatte, die mir über die Mauer folgen und mich zurückzerren würden? Dass Kim mich verfolgte? Oder Skyler?
Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder Richtung Wald und trat zwischen die Bäume. Finsternis umfing mich, so undurchdringlich, dass ich erschrocken nach Luft schnappte. Ich blieb stehen und wartete darauf, dass sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten. Im Stillen verwünschte ich mich dafür, dass ich keine Taschenlampe mitgenommen hatte. Was hatte ich mir dabei gedacht, im Dunkeln in einen Wald zu marschieren, in dem ich mich nicht die Bohne auskannte? Ganz langsam schälten sich die ersten Umrisse aus dem Schwarz. Bleiches Licht sickerte von oben zwischen den Baumkronen hindurch und entriss Äste und Stämme der Finsternis. Das war vollkommen verrückt! Wenn ich mir nicht auf dem unebenen Boden ein Bein brach, würde ich bis zum Tagesanbruch oder länger zwischen den Bäumen herumirren, ehe ich wieder aus dem Dickicht herausfand.
Einen Weg durch das Dunkel und wieder zurück zu finden, war illusorisch.
Ich hatte eine bessere Idee.
Auf meine Schritte achtend, kehrte ich zum Waldrand zurück. Hier hinten gab es keine Straße und, von Holbrook Hill und ein paar einsam gelegenen Jagd- und Ferienhäusern einmal abgesehen, auch keine anderen Anwesen. Wenn nicht gerade jemand über die Mauer blickte – was ich für ziemlich unwahrscheinlich hielt –, lief ich keine Gefahr, entdeckt zu werden. Ich hätte mich hier am Waldrand hinsetzen und mein Ritual durchziehen können, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Das Einzige, das mich davonabhielt, war das Gefühl, immer noch beobachtet zu werden. Vermutlich war das nichts weiter als die neurotische Angst eines Mädchens, das sich heimlich davongeschlichen hatte, um etwas Verbotenes zu tun. Trotzdem hörte ich auf meine innere Stimme. Statt mich an Ort und Stelle niederzulassen, ging ich am Waldrand entlang, halb in den Schatten verborgen, sodass mich ein heimlicher Beobachter schnell aus den Augen verlieren würde.
Noch immer glaubte ich Blicke in meinem Rücken zu spüren. Als hinter mir ein Ast knackte, blieb ich erstarrt stehen. Ganz
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