Die Fluchweberin
»Sobald sie sie haben.«
»Wie bitte?« Ich hatte angenommen, dass die Zauberer lediglich einen Knopf an ihrem PC zu drücken brauchten, und schon wären die richtigen Muster da.
»Ich habe dir ja gesagt, dass es sehr viele unterschiedliche Zeichen gibt und selbst unsere Zauberer haben sie nicht alle parat. Andernfalls hätte ich sie auch in meinem Buch gefunden.«
»Und das heißt?«
»Dass wir warten, bis sie sich melden.« Er atmete tief durch. »Es wird eine Weile dauern, so wie ich es verstanden habe, läuft gerade ein großer Einsatz, der fast alle Kapazitäten erfordert.«
Es war, als ließen seine Worte sämtliche Energie aus meinem Körper entweichen. Ich ließ mich nach hinten auf das Bett fallen und starrte an die Decke, die unter den verzweifelten Tränen verschwamm, die sich in meinen Augen sammelten. Wenn mir nicht einmal mehr die Magiepolizei sofort helfen konnte, hatte ich wohl wirklich das ganz große Los gezogen.
Ich atmete ein paarmal tief durch, blinzelte die Tränen fort und setzte mich wieder auf. »Was machen wir jetzt?«
»Bis ich die Schutzzeichen anbringen kann, solltest du unbedingt wach bleiben. Solange du nicht schläfst, kann die Seele dich nicht kontrollieren.«
Den Rest der Nacht verbrachten wir damit, auf den Anruf seiner Zauberer zu warten – oder wenigstens auf eine Antwort aus den USA. Skyler füllte mich mit Unmengen von Kaffee ab, die er aus dem Aufenthaltsraum organisierte, und achtete darauf, dass ich nicht einschlief. Ich war ohnehin zu angespannt, um Ruhe zu finden.
26
Im Morgengrauen schlich ich in mein Zimmer zurück. Ich duschte und schlüpfte in meine Schuluniform. Der Schlafmangel ließ mich frösteln, weshalb ich Skylers Rollkragenpullover wieder überzog. Die warme Wolle war wie eine Rüstung, in der ich mich sicher fühlte. Sobald ich fertig war, schnappte ich mir meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Frühstück, wo mich Skyler wie gewohnt vor dem Speisesaal erwartete.
»Tun wir das Richtige?«, fragte ich ihn, als wir uns in die Schlange an der Essensausgabe einreihten.
»Unter all den Leuten bist du sicherer als allein in deinem Zimmer.«
Ihm machte der Gedanke zu schaffen, dass ich nach der durchwachten Nacht einschlafen und der Seele damit Tür und Tor öffnen konnte. Darum stellte er mir nicht nur eine Tasse Kaffee auf mein Tablett, sondern gleich zwei. Ich fühlte mich zwar immer noch hellwach und so mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich das Gefühl hatte, die nächsten Tage nicht schlafen zu können, fürchtete aber, dass sich das schnell ändern würde, sobald ich allein war.
Wir setzten uns zu Mercy und den anderen, die uns neugierig musterten. Lilys Blick blieb an den beiden Tassen auf meinem Tablett hängen.
»Lass mich raten«, grinste sie, »ihr habt die ganze Nacht auf den Mathetest gelernt?«
Ich nickte und die drei brachen in Gelächter aus.
»Raine, wir schreiben gar keinen Mathetest«, lachte Mercy. »Wenn du dir schon eine Ausrede suchst, dann wenigstens eine weniger leicht durchschaubare.«
Wir haben die ganze Nacht über versucht zu verhindern, dass eine Seele meinen Körper besetzt und meinen Geist auslöscht.
Skyler bedachte mich mit einem vielsagenden Blick. »Ich hab dir doch gesagt, dass wir vor den dreien nichts geheim halten können.«
»Braucht ihr auch nicht. Wir sind doch alle eine große Familie.« Ty wackelte mit den Augenbrauen.
Skyler scherzte mit den dreien, als wäre letzte Nacht nichts geschehen. Ich war dankbar um das bisschen Normalität, auch wenn es nur ein paar Stunden anhielt. Gleichzeitig war ich erleichtert, dass niemand von mir erwartete, dass ich mich beteiligte. Sie waren meine Schweigsamkeit am Morgen gewöhnt, sodass ich mich zurückhalten und ihnen zuhören konnte, ohne mich selbst mit mehr als ein oder zwei Sätzen einzubringen.
Als Kim den Speisesaal betrat, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Das war dämlich, denn von ihr ging keine Gefahr mehr aus, dessen war ich mir ziemlich sicher. Vermutlich musste ich auch nicht länger fürchten, in ihren Geist gesogen werden – nicht mehr, nachdem ich nun das Medaillon mit der Seele trug. Trotzdem gruselte es mich bei ihrem Anblick.
Ohne uns zu beachten, ging sie zu ihrem Tisch und setzte sich zu ihren Freunden. So wie es aussah, hatten sich die Fronten zwischen ihr, Tanya, Cin und Michelle geklärt. Alle benahmen sich wie immer. Der Einzige, der fehlte, war Max.
Am Morgen dachte ich noch, er würde einfach nur Kim aus dem Weg gehen.
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