Die Fluchweberin
Nacht ohne Schlaf, dafür voller Ungewissheit überstehen sollte. So, wie es aussah, würde ich es in den nächsten Stunden herausfinden.
»Ich schleiche mich bei dir rein, sobald es im Haus ruhig geworden ist.«
»Komm lieber gleich mit.«
Nach dem Abendessen bis zum Zapfenstreich um elf waren die Stockwerksaufsichten besonders emsig und streng darauf bedacht, dass sich keine Mädchen in die Zimmer der Jungs schlichen und umgekehrt. Da mir der Gedanke nicht behagte, die nächsten Stunden allein in meinem Zimmer zu bleiben, folgte ich Skyler trotzdem zu seinem Wohnheim. Die meisten befanden sich noch beim Essen, die Gänge und das Treppenhaus waren beinahe ebenso verwaist wie der Aufenthaltsraum auf Skylers Etage, in den er mich schob, als er Mr Cranston den Gang entlangkommen sah.
»Ich lenke ihn ab«, raunte Skyler mir zu und drückte mir seinen Zimmerschlüssel in die Hand. »Wenn er nicht hinsieht, lauf los.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, kehrte er auf den Gang zurück und einen Moment später hörte ich ihn mit Mr Cranston sprechen. Ich zählte bis zehn, dann spähte ich auf den Gang hinaus. Skyler hatte den Vertrauenslehrer einStück von der Tür zum Aufenthaltsraum entfernt abgefangen. Der Weg zu seinem Zimmer war frei. Zumindest fast, denn Mr Cranston stand seitlich, sodass er mich aus dem Augenwinkel bemerken würde.
»… den nächsten Test?«, hörte ich Skyler sagen.
Cranstons Antwort war zu leise, als dass ich sie verstanden hätte. Skyler drehte sich ein Stück von mir fort, wohl in der Hoffnung, dass Mr Cranston seiner Bewegung folgen würde, doch der Lehrer blieb stehen.
»Vielleicht könnten Sie kurz einen Blick auf meine Notizen werfen?«
Mit einem Handgriff zog er sein Notizbuch aus dem Rucksack, schlug es auf und hielt es dem Lehrer unter die Nase. Als dieser sich darüberbeugte, rückte Skyler näher an ihn heran und versperrte ihm damit die Sicht in meine Richtung.
Eine bessere Chance würde ich nicht bekommen.
Ich lief los. Skylers Schlüssel hielt ich fest in meiner Faust umklammert und stürmte den Gang entlang, wobei ich mich darum bemühte, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Meine Finger schwitzten und fast hätte ich den Schlüssel fallen gelassen. Zum Glück bekam ich ihn zu fassen, bevor er mir entglitt, rammte ihn ins Schloss und sperrte auf. Die Tür schwang lautlos nach innen auf. Ich zog den Schlüssel ab und schlüpfte ins Zimmer. Hinter mir hörte ich, wie Skyler immer noch mit Mr Cranston über seine Notizen sprach. Ihre Stimmen verstummten erst, als ich die Tür leise zudrückte.
Vielleicht sollte ich die Zeit nutzen, um mich umzusehen. Womöglich fand ich einen Bericht oder irgendeinen Hinweis darüber, welche Informationen Skyler über mich an sein Hauptquartier weitergegeben hatte. Ehe ich jedoch auch nur einen Schritt auf seinen Schreibtisch und den daraufstehenden Laptop zumachen konnte, ging hinter mir die Tür auf.
»Danke noch mal«, rief Skyler den Gang entlang. »Sie haben mir sehr geholfen, Mr C!« Dann war er im Zimmer und schloss von innen ab. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. »Den sind wir los.«
Wenn nur alles so einfach ginge.
Skyler zog sein Handy aus der Hosentasche. »Ich versuche es jetzt noch einmal in den USA. Vielleicht erreichen wir diesen Erben endlich.«
Bevor er die Nummer wählen konnte, gab das Handy ein Signal von sich. »Eine Mail aus dem Hauptquartier.« Er öffnete die Nachricht und studierte sie. Schlagartig hellte sich seine Miene auf. »Die Zeichen! Endlich. Lass uns gleich anfangen.«
Er legte das Handy auf den Nachttisch, ging zum Schrank und zog ein Lederbündel von der Länge und etwa dem doppelten Umfang eines Unterarmes daraus hervor. Es sah aus wie die ledernen Hüllen, in denen Maler oft ihre Utensilien aufbewahrten. Streng genommen war es wohl auch nichts anderes. Immerhin wollten wir Zeichen auf meine Haut pinseln.
Er platzierte das Bündel auf dem Bett, löste die Schnüre, die es zusammenhielten, und rollte es zu einem langen Streifen aus. Pinsel verschiedener Größe, kleine Tuben, Tiegel und Röhrchen kamen zum Vorschein. Sein Zeigefinger wanderte in der Luft über die Pinselreihen, ehe er einen herauszog und die Spitze nachdenklich betrachtete. »Der dürfte gehen.«
»Wie oft hast du das schon gemacht?«
Den Pinsel in der Hand sah er auf. »Dutzende Male. Mindestens.«
»Und wie oft hat es funktioniert? Hast du …« Hast dujemals jemanden verloren, der auf diese
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