Die Fluchweberin
jedoch öffnete sich inmitten dieser konturlosen Masse ein Mund. Ein weiterer Schrei erklang, so schrill, dass sich die Härchen an meinen Armen aufrichteten und mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch.
Die Ränder der Gestalt fransten aus, zerfaserten mehr und mehr, wurden vom Luftzug aufgenommen und stiegen in Form einzelner Schwaden zur Decke empor, wo sie sich zu einem Wirbel verdichteten. Gebannt beobachtete ich, wie der Nebel sich zusammenzog und wieder ausweitete, als kämpfe er darum, seine menschliche Form zu erhalten. Plötzlich schoss die Wolke auf mich zu. Ihre Spitze verjüngte sich, zielte wie ein Speer auf meinen Hals. Ein greller Blitz tauchte das Zimmer einen Herzschlag lang in grelles Licht. Dann traf die Wolke auf das Amulett, das nun sichtbar geworden war, und versickerte darin. Als der letzte Fetzen Nebel verschwand, war auch das Amulett nicht mehr zu sehen. Trotzdem starrte ich noch immer auf die Stelle, an der der Nebel verschwunden war.
Die Gestalt.
Jenes Wesen, das versuchte, meinen Körper zu übernehmen.
Ich rieb mit der Hand über meinen Hals, als könnte ich die Kette und die darin innewohnende Magie auf diese Weise loswerden. Immer schneller und fester fuhr ich über die Haut und hörte selbst dann nicht auf, als sie zu brennen begann.
Skylers Hand stoppte mich. Seine Finger, die sich über meine legten und mich zwangen, in der Bewegung innezuhalten. Als ich ihn ansah, ging er vor mir in die Knie und erwiderte meinen Blick besorgt.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
»Das sollte ich wohl eher dich fragen.« Die Wunde an seiner Stirn hatte sich wieder geöffnet und ein Blutstropfen zwängte sich zwischen den Klammern hindurch. Trotzdem winkte er ab.
»Was ist passiert?«, wollte ich wissen. »Wie konnte dieses Ding dich angreifen?«
»Es muss passiert sein, als du eingeschlafen bist«, sagte er. »Dadurch musst du die Kontrolle verloren haben. Zumindest ermöglichte der Schlaf es diesem Wesen wohl, sein Gefängnis zu verlassen. Es … die Gestalt manifestierte sich vor dem Bett. Eine Weile stand sie nur da und betrachtete dich. Dann bemerkte sie mich und griff sofort an.«
»Es wollte dich töten?« Ich hielt den Atem an, ich wusste nicht, ob ich für die Antwort bereit war.
Skyler zuckte die Schultern. »Es war wohl eher ein gescheiterter Versuch.«
Die Worte waren leicht dahingesagt, aber ich hatte gesehen, wie er durch die Luft geflogen war. Er hatte diesem Wesen nichts entgegenzusetzen gehabt. Wenn es mir nicht gelungen wäre, den Schlaf abzuschütteln, hätte es ihn umgebracht!
Mir war plötzlich eiskalt. Ich wusste längst, dass etwas in diesem Amulett gefangen war, etwas, das sich zu befreienversuchte. Aber etwas zu wissen und es zu sehen, sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Dieses Wesen schien mehr und mehr die Kontrolle über mich zu gewinnen. Es hatte mich in den Schlaf gelullt, um seinem Gefängnis entsteigen und sich frei bewegen zu können. Was wäre passiert, wenn ich nicht aufgewacht wäre? Hätte es erst Skyler umgebracht und dann jeden anderen Schüler, der seinen Weg kreuzte?
Hinter meiner Stirn setzte ein dröhnender Kopfschmerz ein, als wollte mich die Kreatur darauf aufmerksam machen, dass sie noch immer da war und auf ihre Chance wartete.
»Jetzt wissen wir zumindest, dass es eine Frau ist«, fuhr Skyler fort. »Ein Geist oder eine Seele.«
Er sagte noch mehr, doch das Hämmern in meinem Kopf wurde so stark, dass ich seinen Worten kaum noch folgen konnte. »Hast du ein Aspirin für mich?«
»In letzter Zeit nimmst du ziemlich viel von dem Zeug.«
Ich zuckte die Schultern. »Mein Rücken schreit danach, die Schmerzen loszuwerden. Aber im Augenblick ist es mal wieder mein Kopf.«
Skyler runzelte die Stirn. »Die Kopfschmerzen plagen dich schon länger, oder?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Seit du das Amulett hast?«
Ich sah ihn überrascht an. Dann nickte ich. Das kam in etwa hin. Vielleicht auch, seit ich das erste Mal in Kims Verstand gezogen worden war – wobei ich mir ziemlich sicher war, dass ich in dieser Situation Kims Schmerzen gespürt hatte.
»Schluckt Kim nicht auch seit Tagen immer wieder Tabletten?«
Wieder nickte ich. »Seit …« Meinem Fluch. »Seit Max ihr das Amulett geschenkt hat. Oder kurz danach.«
»Hast du dich in der letzten Zeit müde oder erschöpft gefühlt?«, bohrte er weiter.
»Ein wenig. Warum?« Worauf wollte er hinaus?
»Ich glaube, dass diese Seele dem Träger des Amuletts Energie abzapft. Auf
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