Die Fluesse von London - Roman
Schokoladekekse.
Manchmal ist es besser, einfach nur stillzuhalten und den ersten Schlag wegzustecken. Auf diese Weise erkennt man wenigstens, was der andere gegen dich in der Hand hat, und er legt dabei seine Absichten offen. Wenn du auf solche Dinge Wert legst, kannst du dich gleich entschieden auf der richtigen Seite positionieren, nämlich der von Gesetz und Ordnung. Und wenn der Schlag so heftig ist, dass er dich zu Boden schickt? Nun, das Risiko musst du eben eingehen.
Der stumpfe Gegenstand, den sie sich ausgesucht hatten, überraschte mich dann doch, obwohl ich mich bemühte, ein neutrales Gesicht zu machen. Detective Chief Inspector Seawoll und Detective Sergeant Stephanopoulos traten ein und setzten sich mir gegenüber an denTisch. Stephanopoulos klatschte eine Akte vor sich auf den Tisch. Sie war viel zu dick, als dass sie in den letzten paar Stunden entstanden sein konnte, also hatten sie die Akte wohl mit leerem Papier ein bisschen aufgepolstert. Stephanopoulos lächelte mich schmallippig an, während sie die Zellophanhüllen von den Audiokassetten riss und die Kassetten in den Rekorder schob. Eine der beiden Kassetten war für mich und meinen Rechtsanwalt bestimmt, damit nicht aus dem Kontext gerissene Aussagen gegen mich verwendet werden konnten, und die andere war für die Polizei, damit sie beweisen konnte, dass sie mich nicht mit einer mit Stahlkugeln gefüllten Socke auf Rücken, Schenkel und Hintern hatten schlagen müssen, um mich zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Beide Tonbänder waren eigentlich völlig überflüssig, denn dort, wo ich saß, befand ich mich genau im Fokus der Überwachungskamera über der Tür. Die Unterhaltung wurde live in den Beobachtungsraum weiter vorn im Korridor übertragen, und nach dem theatralischen Eintreten von Seawoll und Stephanopoulos zu urteilen, beobachtete dort irgendein höheres Tier die Vernehmung – mindestens ein Deputy Assistant Commissioner, vermutete ich.
Das Aufnahmegerät wurde angeschaltet und Seawoll erklärte, dass ich, er selbst und Stephanopoulos anwesend seien. Er wies mich darauf hin, dass ich nicht unter Arrest stand, sondern lediglich der Polizei bei ihren Ermittlungen half. Theoretisch konnte ich also aufstehen und gehen, wann immer ich wollte, sofern ich Lust verspürte, mich umgehend von meiner Polizeikarriere zu verabschieden. Glauben Sie bloß nicht, der Gedanke sei mir nicht gekommen.
Seawoll bat mich, für das Protokoll noch einmal die Art der Operation zu erläutern, die Nightingale und ich durchführten, als er niedergeschossen wurde.
»Das wollen Sie wirklich im Protokoll haben?«, fragte ich.
Seawoll nickte, also erstattete ich vollumfänglich Bericht und erläuterte unsere Theorie, dass Henry Pyke ein Wiedergänger sei, ein Vampir-Geist mit Rachegelüsten, der die traditionelle Geschichte von Punch und Judy nachspielte, dabei aber reale Menschen als Puppen benutzte, und dass wir uns einen Weg überlegt hatten, wie wir selbst die Geschichte infiltrieren konnten, damit Nightingale Henry Pykes’ Knochen aufspüren und zermahlen konnte. Stephanopoulos konnte ein gequältes Aufstöhnen nicht unterdrücken, als ich über die magischen Aspekte des Falles berichtete; Seawolls Miene blieb undurchdringlich. Als wir zu der Schießerei kamen, fragte er mich, ob ich den Schützen erkannt hätte.
»Nein«, antwortete ich. »Wer war er?«
»Er heißt Christopher Pinkman«, sagte Seawoll. »Und er bestreitet, auf irgendjemanden geschossen zu haben. Behauptet, er habe sich auf dem Heimweg von der Oper befunden, als ihn auf der Straße zwei Männer angriffen.«
»Wie erklärt er dann, dass er eine Pistole hatte?«, fragte ich.
»Er behauptet, er habe keine Pistole gehabt. Er sagt aus, er könne sich nur daran erinnern, aus der Oper gekommen zu sein, und als Nächstes erinnert er sich, dass er von Ihnen gegen den Kopf getreten wurde.«
»Und an den extremen Schmerz in seinem gebrochenenFußknöchel«, ergänzte Stephanopoulos. »Außerdem erlitt er ernsthafte Prellungen und Blutergüsse, als er auf die Straße geschleudert wurde.«
»Wurde er schon auf Schmauchspuren untersucht?«, fragte ich.
»Er ist Chemielehrer an der Westminster School«, sagte Stephanopoulos.
»Scheiße«, sagte ich. Der Schmauchspur-Test war berüchtigt für seine Unzuverlässigkeit, und wenn der Verdächtige auch noch beruflich häufig mit Chemikalien hantierte, würde kein forensischer Gutachter der Welt vor Gericht bezeugen, dass es wahrscheinlich
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