Die Formel der Macht
trat.”
Aus Angst, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, stand Summer wie angewurzelt da, bis Gordon seinen Platz neben Senhora Nabuco wieder eingenommen hatte. Dann drehte sie sich um und ging blind auf den nächsten Ausgang zu. Die Damentoilette war leer, glücklicherweise, denn sie zitterte so sehr, dass sie sich gegen den Marmortresen lehnen musste. Ihre Mutter war der freundlichste, warmherzigste Mensch gewesen, dem sie je begegnet war, und dazu auch noch einer der klügsten. Es tat weh, dass so viele Leute aus den Kreisen ihres Vaters unfähig gewesen waren, hinter den selbstgewebten Kleidern und der altmodischen Frisur den wertvollen Menschen zu erkennen.
Nachdem das Zittern aufgehört hatte, beugte sie sich vor, um in den Spiegel zu schauen, während sie sich mit großer Konzentration die Lippen nachzog. Mit ihrer Beziehung zu ihrem Vater ging es beständig bergab, seit er vor elf Jahren ihre Mutter verlassen hatte und bei Olivia eingezogen war. Und jetzt kam noch erschwerend hinzu, dass er seit seiner Ernennung zum Minister fast überhaupt keine Zeit mehr für sie hatte. Sie ließ ihre Tasche zuschnappen und straffte die Schultern. Der Mangel an Vertrautheit zwischen ihrem Vater und ihr war zwar traurig, aber kaum der Stoff, aus dem Tragödien waren. Bestimmt die Hälfte der Frauen, die sie kannte, würden wahrscheinlich behaupten, nicht unbedingt eine perfekte Beziehung zu ihrem Vater zu haben. Zeit, zu Mr. Fujito und Olivias ärgerlich perfektem Bruder zurückzukehren. Oh Jubel! Für den Rest des Abends konnte sie zwischen einem Kreuzverhör durch Duncan oder einer in Zeichensprache geführten Unterhaltung mit Mr. Fujito wählen. Was für herrliche Aussichten.
“Ich habe dem Kellner gesagt, dass er deine Ravioli mitnehmen und den Lammrücken hierlassen soll”, sagte Duncan, als sie an den Tisch zurückkehrte.
“Danke. Entschuldige, dass ich so lange weg war.” Sie lächelte strahlend. “Wo ist Mr. Fujito?”
“Er tanzt mit Mrs. Fujito.” Duncan schaute sie ruhig an. “Worüber hast du dich denn so aufgeregt, dass du dich nicht an den Tisch zurückgetraut hast?”
“Über nichts. Das Lamm ist köstlich, findest du nicht?”
“Ja.” Duncan legte seine Hand auf ihre, womit er sie zwang, mit dem Essen aufzuhören. “Wer bin ich, Summer?”
Überrascht legte sie ihre Gabel hin. “Was für eine bizarre Frage. Was meinst du damit? Du bist Duncan Ryder, Olivias Bruder.”
Er lachte verärgert auf. “Duncan-Ryder-Olivias-Bruder. Du sagst es so, dass es klingt, als wäre es ein einziges Wort, eine universale Verdammung.”
“Nun, du bist aber nun mal Duncan Ryder und du bist ebenso Olivias Bruder”, sagte sie streitlustig.
“Ja, sicher, nur dass für dich die Tatsache, dass ich Olivias Bruder bin, alles andere überragt, was ich sonst noch bin. Meine Schwester hat deinen Vater geheiratet, und du wünschst dir, sie hätte es nicht getan. Ende von Duncans Biografie.”
“Ich weiß eine Menge von dir, was nichts mit Olivia zu tun hat”, protestierte Summer.
“Nenn mir nur eins.”
Sie kramte in ihren Gedächtnisschubladen. “Du arbeitest im Außenministerium und bist für Südamerika zuständig. Da, das ist eins.”
“Richtig. Wirklich toll. Da kennen wir uns elf Jahre – zugegeben nur gezwungenermaßen –, und alles, was du von mir weißt, ist, dass ich Duncan-Ryder-Olivias-Bruder bin und für das Außenministerium arbeite.”
Was wusste sie sonst noch über Duncan? Bestimmt eine ganze Menge. Immerhin hatte der Kerl sie jahrelang wahnsinnig gemacht. Aber jetzt tappte sie im Dunkeln. Bis auf … Sie konnte sich ausrechnen, wie alt er war. Olivia war fünfundvierzig, und Duncan war sieben Jahre jünger. “Du bist achtunddreißig und warst nie verheiratet”, verkündete sie triumphierend.
“Neununddreißig”, korrigierte er sie glatt. “Ich hatte letzten Monat Geburtstag. Und ich war verheiratet und wurde mit siebenundzwanzig geschieden.”
“Du warst verheiratet?” Sie starrte ihn verblüfft an. “Das wusste ich nicht.”
“Woher auch? Du hast mich nie gefragt.”
“Wie lange warst du denn verheiratet? Hast du Kinder?” Summer sah sich gezwungen zuzugeben, dass es lächerlich war, einem Mann, den sie seit elf Jahren kannte, eine solche Frage zu stellen.
“Vier Jahre und Gott sei Dank keine Kinder. Das war einer der wenigen Fehler, die meine Exfrau und ich vermeiden konnten.”
“Du hältst Kinder für einen Fehler?”
“Für Irene und mich wäre es eine
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