Die Formel der Macht
gefolgt von ihrem Sitznachbarn, zur Tür. Sie waren fast die ersten, die den Zug verließen, und dank des Leibesumfangs und der Größe ihres Mitreisenden schaffte Summer es, unentdeckt zum Ausgang zu kommen.
Sie seufzte erleichtert auf, als sie in die kühle klare Manhattannacht hinaustrat und einem Taxi winkte. Zum Glück würde sie Olivia erst in einigen Wochen wiedersehen müssen – viel Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die zweite Ehe ihres Vaters nicht ganz so perfekt war, wie sie immer angenommen hatte.
Während sich das Taxi durch den dichten Verkehr auf der Sixth Avenue schlängelte, schob sie die Gedanken an ihre Stiefmutter rigoros beiseite und überlegte, ob sie einen der verlockend wirkenden Romane, die sie sich in Washington gekauft hatte, lesen oder lieber bei voll aufgedrehter Stereoanlage ein duftendes Schaumbad nehmen sollte. Vielleicht würde sie ja baden.
Auf keinen Fall jedoch würde sie in ihrem Apartment herumsitzen und sich fragen, ob Duncan Ryder noch vor Ablauf dieses Wochenendes anrufen würde.
Als Summer nach Hause kam, wartete bereits eine Nachricht von Duncan Ryder auf ihrem Anrufbeantworter. Sie war weder lang noch sonderlich erhellend, und das einzig Ungewöhnliche daran war, dass er sie bisher noch nie zu Hause angerufen hatte. Er hatte ihr lediglich versichert, wie sehr er den Freitagabend mit ihr genossen habe und dass er sich melden würde, wenn er nächste Woche nach New York käme. Summer hörte sich die Nachricht viermal an, und als sie am nächsten Morgen das Gelände der Columbia Universität betrat, grübelte sie immer noch über ihre Reaktion darauf nach.
Es war ein grauer Morgen, und obwohl es nicht regnete, war es für einen Tag im Mai entschieden zu kühl, deshalb schob Summer die Hände tief in die Hosentaschen, während sie über den Campus zu dem Institut, in dem sie arbeitete, ging, wobei sie sich wünschte, etwas Wärmeres als ein Baumwollsweatshirt angezogen zu haben. Obwohl es Sonntag und kurz vor Semesterende war, standen vor den Gebäuden die üblichen Grüppchen debattierender Studenten und Besucher herum.
Summer umrundete sie, ohne sie wirklich zu sehen, während ihre Gedanken unstet hin und her sprangen zwischen der Überlegung, wie sie ihren Schreibtisch am besten von dem Verwaltungspapierkram befreien könnte und was sie zu Duncan sagen sollte, falls er tatsächlich anrief. War sie verrückt, auch nur daran zu denken, dass sie sich nächste Woche mit ihm treffen könnte? Ganz davon abgesehen, dass er Olivias Bruder war, hatte sie seit dem Debakel mit Joe Malone im letzten Jahr den festen Vorsatz gefasst, nie wieder mit einem guten Freund ins Bett zu gehen.
Obwohl der Fall bei Duncan anders liegt, entschied sie. Selbst wenn die Begegnung mit ihm ein totaler Flop werden würde, bestünde doch keine Gefahr, dass sie eine Freundschaft kaputt machte, einfach deshalb, weil sie gar nicht befreundet waren. Ganz im Gegenteil, sie waren sich elf Jahre lang in herzlicher Abneigung zugetan gewesen. Deshalb würde sie, wenn sich Duncan am Ende doch wieder als der aufgeblasene Kotzbrocken herausstellte, den sie immer in ihm gesehen hatte, nichts außer ein paar Stunden ihrer Zeit verloren haben.
Ermutigt von diesem Gedanken, lächelte Summer ein Grüppchen von Studenten an, die auf der niedrigen Mauer vor dem Gebäude, in dem die Abteilung für Klimakunde untergebracht war, hockten und gemütlich die Beine baumeln ließen. Himmel, worüber machte sie sich eigentlich Sorgen? Sie hatte von Duncan immer so eine schlechte Meinung gehabt, dass es schon eine mächtige Beförderung war, ihn als aufgeblasenen Kotzbrocken einzustufen.
Während sie die Stufen hinaufging, die zu dem imposanten Eingang des Gebäudes – ein Überbleibsel von Art-déco-Üppigkeit – führte, kramte sie in ihrer Hosentasche nach ihrem Schlüssel. Einer der Studenten sprang von dem Mäuerchen und kam in dem Moment, in dem sie den Schlüssel gefunden hatte, auf sie zu. “Verzeihung, Miss, aber wir suchen die Edith-B.-Stroud-Bibliothek. Können Sie uns vielleicht weiterhelfen?”
Der Student trug eine Brille mit dicken Gläsern und einen dunklen buschigen Bart, der nicht nur sein Gesicht fast unkenntlich machte, sondern zudem fast auch noch wie angeklebt wirkte. Summer musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie musste sich immer wieder über die Anstrengungen wundern, die manche unteren Semester in das Bemühen investierten, ihre Individualität zu betonen. “Edith B. Stroud?”,
Weitere Kostenlose Bücher