Die Formel der Macht
zumindest ein paar Falten rausgehen würden, ihre Leinenjacke aus. Ihr Spiegelbild starrte zwar ordentlicher als vorher zurück, aber es war immer noch Lichtjahre entfernt von der lässigen Eleganz ihrer Stiefmutter.
Summer spürte, wie sie von einer Welle vertrauter Wut überschwemmt wurde, wobei ihr aufging, dass sie sich schon wieder einmal allein durch Olivias Anwesenheit verunsichern ließ. Dabei war ihr während der schlaflosen Stunden, die auf ihre Begegnung mit Duncan gefolgt waren, klar geworden, dass es kaum etwas Jämmerlicheres gab als eine dreißigjährige Frau, die sich ihr Selbstbild von ihrer Stiefmutter verbiegen ließ. In den vergangenen Jahren war sie so sehr damit beschäftigt gewesen, mit Olivia Krieg zu führen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie viele Opfer auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben waren – unter anderem ihr Verhältnis zu Duncan. Vielleicht war Duncan ja wirklich der Kotzbrocken, für den sie ihn immer gehalten hatte. Andererseits hielt sie es inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen, dass er ganz anders war.
Von daher befahl sie sich jetzt, sich zusammenzureißen, machte die WC-Tür auf und ging ohne den geringsten Versuch, sich unsichtbar zu machen, den Gang hinunter. Da sowieso keine Chance bestand, Olivias Aufmerksamkeit zu entkommen, konnte sie die unvermeidliche Begegnung ebenso gut gleich hinter sich bringen.
Weil sie sich gar nicht bemühte, unentdeckt zu bleiben, nahm Olivia natürlich keine Notiz von ihr. Von ihrer Stiefmutter übersehen zu werden schien irgendwie ihr Schicksal zu sein. Mit einem Schulterzucken wandte sie sich wieder ihren Unterlagen zu, doch die eben noch so fesselnden australischen Statistiken hatten plötzlich ihre Anziehungskraft verloren, und bald schon ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder über den Rand ihres Blattes in Richtung ihrer Stiefmutter schielte, wobei sie überlegte, was diese zu ihrer Reise nach New York veranlasst hatte.
Olivia reiste mit einem Begleiter, so viel war klar. Sie unterhielt sich angeregt mit dem Mann, der ihr gegenübersaß, und er beugte sich von Zeit zu Zeit vor, um ihre Hände zu ergreifen. Summer fand es seltsam, dass ihre Stiefmutter diese Vertrautheit zuließ. Olivia kostete es aus, wenn berühmte und wichtige Männer ihr schmeichelten, aber sie war stets darauf bedacht, den gebotenen Abstand zu wahren, eine Neigung, die seit Gordon Shepherds Ernennung zum Minister noch ausgeprägter geworden war.
Wer war dieser Mann? Auf keinen Fall jemand, den Olivia sich wegen seines guten Aussehens ausgesucht hatte, so viel stand fest. Er war dunkelhaarig, mit dunklem Teint und leicht ungeschlacht wirkenden Gesichtszügen, so wie auch sein Körperbau eher stämmig als elegant war. Aber er war von einer Aura unübersehbarer Autorität umgeben, obwohl er nichts anderes tat, als in einem Zug zu sitzen und mit einer attraktiven Frau zu flirten.
Und er flirtete tatsächlich, wie sie jetzt schockiert feststellte. Olivia musste ihn für sehr wichtig halten, dass sie ihm dieses Eindringen in ihre Privatsphäre gestattete. Summer war überzeugt, ihn vorher schon gesehen zu haben, aber sie konnte sich nicht erinnern, wo und wann. War er eines der weniger bekannten Kabinettsmitglieder? Oder vielleicht ein Staatssekretär? Summer beobachtete fasziniert, wie der Mann Olivias Hand nahm und seine Lippen auf den Handrücken drückte.
Sie hielt den Atem an in der Erwartung, dass ihre Stiefmutter ihm ihre Hand entreißen würde. Aber Olivia lachte nur, es klang so verschämt und leise, dass Summer es überhört hätte, wenn sie die beiden nicht beobachtet hätte. Ihre Stiefmutter saß immer noch mit dem Rücken zu ihr, sodass Summer ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber ihre Körpersprache signalisierte ohne jeden Zweifel, dass der Mann, der ihr gegenübersaß, mehr war als nur ein Bekannter. Sie versuchten beide, vorsichtig zu sein, aber ihre Hände fanden sich immer wieder fast wie von selbst. Jetzt streckte der Mann die Hand aus und legte sie in einer flüchtigen, aber verräterischen Geste an Olivias Wange.
Summer wurde bei dem, was sie sah, von einer verwirrenden Mischung von Gefühlen überschwemmt. Sie hatte ihre Stiefmutter über die Jahre hinweg Hunderter Sünden für schuldig befunden, aber dass sie untreu sein könnte, war ihr nie auch nur für eine Sekunde in den Sinn gekommen. Sie war immer überzeugt gewesen, dass Olivia und ihr Vater eine glückliche Ehe führten – ja, mehr noch, wenn sie ganz ehrlich sein
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